"Es war nicht das Land selbst, das mich verzauberte, es war vor allem das Licht, in dem ich es vorfand – die Ruhe und Abgeschiedenheit,
das Farbenfeuer am Himmel der Nacht... Alles war so intensiv und ergreifend, weil sich meine Sinne nach wochenlanger Einsamkeit einer anderen
Wirklichkeit hingaben. Nie zuvor hatte ich eine solche Zufriedenheit gespürt, wie in den Wäldern von Lappland und Karelien."
Leuchtende Nachtwolken und Polarlichter im skandinavischen Sommer
Beobachtungen während einer zwölfwöchigen Radreise um die Ostsee
Nach dem ersten großen Polarlichtereignis über Mitteleuropa im April 2000 häuften sich Berichte über das wiederholte Auftreten solcher sonst typisch nordischen Naturschauspiele in unseren Breiten. Beobachtungen Leuchtender Nachtwolken (NLC) gingen dagegen etwas zurück. Nach fünf Jahren kontinuierlicher Beobachtungen in Deutschland fragte ich mich: Was passiert am Himmel in den hellen und sehr kurzen Sommernächten des Nordens? Wie oft sind hier Polarlichter und Leuchtende Nachtwolken zu sehen? Im Folgenden möchte ich meine Beobachtungen schildern, die mir im Jahr 2001 während einer zwölfwöchigen Radreise um die Ostsee gelangen.
So mancher wird sich fragen, warum ich ausgerechnet das Fahrrad wählte, um mich durch die endlosen Weiten des Nordens zu schlagen. Zum einen ist es für einen mittellosen Studenten wie mich die billigste Art, ferne Länder zu bereisen. Zum anderen sind es die Natur und die Landschaften, denen man viel intensiver begegnet, als mit üblichen Fortbewegungsmitteln. Außerdem war es mir vergönnt, jederzeit die wunderbarsten Übernachtungsplätze zu beziehen - sei es an einem ruhigen Seeufer, einem prächtigen Wasserfall oder auf einer felsigen Anhöhe - wichtig war mir stets ein ungehinderter Blick nach Norden. So kam es, dass ich mich auf meiner fast 7000 km langen Reise einer nahezu uneingeschränkten Beobachtung nordhemisphärischer Leuchterscheinungen widmen konnte.
Schweden
Meine Reise begann am 15.7. im südbrandenburgischen Heimatort Klettwitz. Bepackt mit Unmengen an Vorräten, um die ersten Tage ohne große Einkäufe über die Runden zu bringen, brachten Fahrrad und Gepäck ganze 60 kg auf die Waage! Zu Beginn hatte ich ganz schön zu kämpfen, doch mit der Zeit gewöhnte ich mich an die neuen Umstände. Zügigen Trittes erreichte ich nach drei Tagen die Ostsee und setzte mit der Fähre nach Schweden über. Den Süden des Landes kannte ich bereits von früheren Radtouren, weshalb ich mich nicht gedrängt fühlte, lange zu verweilen und letztendlich sehr gut vorankam. Zu meiner Freude setzte sich nach und nach wunderbares Sommerwetter durch, welches mir noch ganze zwei Wochen überwiegende Trockenheit bescherte.
Auf einem notdürftig bezogenen Hügelchen im Ort Kalv erspähte ich am Abend des 20.7. die ersten Leuchtenden Nachtwolken der Tour. Erste Strukturen zeigten sich mir schon während der Fahrt, da ich wegen ausgedehnter Vogelschutzgebiete lange umherirrte, bis ich einen halbwegs legalen Übernachtungsplatz fand. Es war die erste richtig klare Nacht überhaupt. Eine ungewöhnliche Stille lag über dem im Dämmerlicht ruhenden Ort. In den Senken sammelte sich dichter Nebel und benetzte alles mit Tau. Dann sah ich plötzlich ein blitzendes Licht im Nordosten - eine Feuerkugel, die mit orange-grünlichem Schweif direkt in die silbrigen Schleier sauste! Ein fantastischer Augenblick und zugleich ein grandioser Auftakt einer langen Beobachtungsreihe, die erst am 20.8. im nördlichen Finnland ihr Ende finden sollte. Fortan zierten etwa jeden zweiten Tag Leuchtende Nachtwolken den dämmernden Nordhimmel. Insgesamt 14 Sichtungen standen 22 Tagen mit halbwegs einsehbarem Nordhorizont gegenüber - eine Aktivität, die ich in dieser Form nicht erwartet hatte!
Obwohl sich Sonnenauf- und -untergangszeiten kaum von denen daheim unterschieden, wurden die Nächte auf meinem stetigen Nordkurs schlagartig heller - bald sogar so hell, dass ich befürchtete, der Dämmerungszustand würde mir irgendwann die NLC wegzaubern. Auch wenn es letztendlich nicht so weit kam, der Himmelshintergrund ließ kaum aussagekräftige Fotografien zu. Die Auffälligkeit der Wolken war mitunter so gering, dass es immer wieder einer hohen Aufmerksamkeit bedurfte, diese ausfindig zu machen. Unter der hellen Mitternachtsdämmerung litten jedoch vorwiegend die nordschwedischen Sichtungen.
Im Süden Schwedens schnitt ich den Vänersee, um dann über zunehmend bergige Landstriche den Siljansee im kulturellen Herzen des Landes zu erreichen. Nach nunmehr zwei Wochen auf Achse, gönnte ich mir endlich etwas Ruhe, spülte meine durchgeschwitzten Sachen durch und ließ den Abend gediegen ausklingen. Dichte Wolkenfelder brachen über das norwegische Gebirge herein und verdeckten hartnäckig große Teile des Himmels. Dennoch erlaubten diese gegen Mitternacht einen Blick auf die vorerst letzten auffällig strukturierten NLC - prächtige Wellenformationen, die an einem weniger bewölkten Himmel wohl noch ein bisschen besser zur Geltung gekommen wären.
In den Folgetagen tauchte ich immer tiefer in das skandinavische Gebirge ein. Zuweilen stetige Anstiege ließen mich in Höhen von 700 m vordringen. Mit von der Partie war plötzlich ein bösartiger Eiswind, der mir drei Tage lang frontal ins Gesicht blies. Ich hatte das Gefühl, den Polarkreis schon längst überquert zu haben. Wenigstens blieb es klar und trocken, weshalb ich mich dem Gegenwind trotzend weiterhin auf die Suche nach günstig gelegenen Seeufern machte.
Nur des nachts flaute der Wind ab und ermöglichte der Temperatur ein weiteres Absinken bis zum Gefrierpunkt. Die unerwartete Kälte veranlasste mich einige Male, die aufgeheizten Begrenzungssteine eines kleinen Feuers mit ins Zelt zu legen. Der prüfende Blick an den Nordhimmel erfolgte dann oft nur noch aus Schlafsack und Zelt heraus, zumindest solange, bis sich erste Schleier am Himmel zeigten. Auffällig war in diesen Tagen, dass die NLC, wenn auch relativ schwach, erst gegen Mitternacht auftraten. Ein eben noch wolkenloser Himmel war auf einmal mit zarten Schlieren überzogen, die zudem allmählich deutlicher wurden. Ohne Zweifel handelte es sich hierbei um eine direkte Entstehungsphase. Doch warum erst zur dunkelsten Stunde? Hatte sich die Mesopause etwa erst zu Mitternacht genügend abgekühlt oder sanken die verursachenden Teilchen erst bei geringster Sonnenstrahlung in die entsprechende Schicht? Nun, ich bin kein Theoretiker, wollte aber jene Gedankenspiele nicht unerwähnt lassen, zumal ich am dritten großen See meiner Reise, dem sagenumwobenen Storsee, am frühen Morgen des 1.8. die dahingehend eindrucksvollste Sichtung machte.
Wieder einmal bedeckten föhnige Schichtwolken große Teile des Himmels, die jedoch genügend Platz ließen, um die NLC-Aktivität fortlaufend zu überwachen. Kurz nach Mitternacht traten schließlich die ersten Schleier hervor. Obwohl es nun allmählich heller wurde, zeigten sich immer auffälliger Bänder mit hellen Knoten, welche zunehmend den ganzen Himmel überzogen. Ab 1 Uhr MEZ dehnten sich die NLC, die wie riesige Fallstreifen am ganzen Himmel hingen, deutlich bis 40° über den Zenit nach Süden hin aus. Selbst nach 2 Uhr waren die Wolken immer noch wahrnehmbar, was auf eine enorme Helligkeitszunahme innerhalb kürzester Zeit schließen lässt!
Der klaren Kälte folgte schon bald unangenehmes Regenwetter - ausgerechnet beim Durchqueren grandioser Bergwelten entlang der norwegischen Grenze. Die einzige Straße in diesem Gebirgsareal führte mich durch herrlich weite, zumeist unberührte Landschaften. Wilde, von Felsen durchsetzte Bergwälder wechselten mit glasklaren Seen. Überall hörte man das dumpfe Donnern reißender Flüsse, die sich an manchen Stellen als tosende Wasserfälle ihren Weg durch tiefe Schluchten bahnten. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl von wirklicher Abgeschiedenheit. Durch die tief hängende Wolkenschicht wirkte das Land wie abgedeckelt, von der Außenwelt abgeschottet. In gewisser Weise war es das auch, da ich kaum noch Möglichkeiten fand, Proviant nachzukaufen, ganz zu schweigen von Getränken. Ich begnügte mich damit, mein Trinkwasser eine Woche lang aus Seen und Flüssen zu schöpfen... Das Wasser von oben hingegen machte mir bald zu schaffen. Alles war feucht und wollte nicht mehr trocknen.
Nachdem ich die Gebirgsgegend ganz ohne Beobachtungserfolge hinter mir ließ, tauchte ich in die märchenhaften Wälder Lapplands ein. Meine Jagd nach dem immerwährenden Licht neigte sich langsam dem Ende zu, denn von nun an hieß es vorwiegend Kurs Ost bis an die russische Grenze! Ein wenig Monotonie stellte sich in den riesigen dünn besiedelten Waldgebieten ein, aber auch das Gefühl von unendlicher Weite. Eine nordische Ruhe lag über den Wäldern - eine Ruhe, die in mich überging und für eine Weile alle Ansprüche an die Tour bedeutungslos erscheinen ließ.
Am 12.8. gelangte ich kurz vor dem Polarkreis in ein stark versumpftes Areal, in dem es absolut unmöglich war, einen gescheiten und zugleich halbwegs trockenen Platz zu finden. Ich fuhr bis in die Dämmerung durch düster vernebelte Wälder, bevor ich mich schließlich dazu entschied, an der Kluft eines Wasserfalls auf blankem Fels zu zelten... So mühsam die Suche nach einem Nachtlager auch gewesen sein mag, so entlohnte mich doch der eroberte Wasserfall mit einer einmalig wilden Aura, gekrönt von ein paar hellen hochreichenden NLC, deren durchlöcherte Strukturen ein sehr eigenwilliges Bild abgaben. Dieses geradezu märchenhafte Motiv versank jedoch schon bald im Nebel, welcher sich über dem brausenden Gewässer zunehmend verdichtete.
Finnland
Im finnischen Teil Lapplands ging es auf langweiligen Hauptstraßen direkt in den Osten des Landes. Das noch immer durchwachsene Wetter wich allmählich einer beständigen Schönwetterperiode. Doch bevor es soweit kam, gelangen mir noch meine letzten und gleichzeitig prächtigsten NLC-Beobachtungen!
Am Abend des 17.8. wollte ich gerade in den Schlafsack kriechen, schaute noch einmal prüfend in den Nordhimmel und wurde ein wenig zögerlich fündig. Schwache NLC lugten zwischen abziehenden Stratocumuli hervor und wurden mit der Zeit immer auffälliger. Schließlich kam ich nicht umhin, ein paar Bilder anzufertigen, baute hastig meine Kamera auf und ging in Stellung. Genau in jenem Moment entdeckte ich im Südwesten eine emporsteigende weißliche Schliere, die erst wenige Minuten später ihre tatsächliche Identität preisgab: Es war das erste Polarlicht meiner Tour, welches sich nach einer gelungenen Vorstellung in Mitteleuropa wieder zurück in den "heimischen" Norden zog und nun hier bei mir über den ganzen Himmel strahlte - ein Bild für die Götter! Ich sprang wie ein Troll durch den Wald, um diese einmalige Stimmung irgendwie auf Film zu bannen... Das Polarlicht verlor jedoch schon bald an Intensität, so dass ich mich wieder den mittlerweile nicht minder prächtigen NLC widmen konnte. Erst jetzt fiel mir auf, dass die Dämmerung sogar um Mitternacht noch so viel Licht abgab, dass nur die helleren Sterne sichtbar waren und ich zudem mühelos meine Notizen lesen konnte! Wie hell musste wohl das Polarlicht gewesen sein?
Übermüdet begab ich mich am Folgetag bis kurz vor die russische Grenze und fand einen wunderbaren Übernachtungsplatz am Kulmajärvi. Hier stimmte einfach alles, weshalb ich mich dazu entschied, einen Tag zu pausieren - mit gutem Grund, wie ich noch am selben Abend feststellen musste. Wieder einmal ging es mit ein paar unscheinbaren NLC-Schleiern los und mündete ab Mitternacht in einer fantastischen Kombination aus Mitternachtsdämmerung, Leuchtenden Nachtwolken, Polarlichtstrahlen und aufgehenden Planeten! Aus mir wurde wieder der besagte Troll, bis ich kurz vor Tagesanbruch endlich die Gelegenheit fand, mich aufs Ohr zu hauen.
Mit halbwegs ausgeglichenem Schlafdefizit nutzte ich meinen Ruhetag dazu, meine Kleidung zu waschen und einen kleinen Abstecher an die Grenze zu unternehmen. Auf Wildpfaden umrundete ich dabei einmal den Kulmajärvi, erschreckte einen im Dickicht fressenden Elch und bereitete mir einen gemütlichen Abend vor. Mit Feuer und heißem Met ließ ich stimmungsvoll die Dämmerung hereinbrechen. Über Russland hingen schon wieder die ersten NLC, welche im Laufe der Nacht derart an Prächtigkeit gewannen, dass ich aufpassen musste, meinen Vorrat an Filmen nicht endlos zu verpulvern!
Fürs erste übersättigt, begab ich mich in den folgenden Tagen durch dünn besiedelte Waldgebiete entlang der russischen Grenze wieder zurück in den Süden. Leuchtende Nachtwolken zeigten sich nicht mehr, dafür hüllten die Polarlichter nun etwa alle zwei Tage den nächtlichen Nordhimmel in ein zauberhaftes Licht. Da ich auf meinem Südkurs der Nacht praktisch entgegen fuhr, dünnte sich die Mitternachtsdämmerung mehr und mehr zu einem fahlen Lichtschein aus, bis sie im Südosten Finnlands ganz der Dunkelheit weichen musste. Die Erscheinung der Nordlichter verhielt sich ähnlich, da ich mich ja von Tag zu Tag auch von der Polarlichtzone entfernte. Doch zuvor sollte ich noch einige Male ins Staunen versetzt werden.
Das wohl überwältigendste Polarlicht erlebte ich am Abend des 22.8. an einer Verzweigung des Jonkeri. Ich saß noch am Feuer und röstete mir ein paar Brotscheiben, als plötzlich am dämmernden Nordosthorizont ein paar schnell bewegte grünliche Strahlen meine Aufmerksamkeit weckten. Da sich diese auf der ruhigen Wasseroberfläche des Jonkeri wunderbar spiegelten, fackelte ich nicht lange, schnappte meine Kamera und schlug mich durch den Uferwald an eine optimale Stelle zum fotografieren. Das nun folgende Schauspiel ließ nicht lange auf sich warten: Ein intensiv leuchtender grüner Bogen spannte sich ruhig über den noch hell dämmernden Nordhorizont, ließ hin und wieder ein paar Strahlen auf sich tanzen und flammte irgendwann zu einem hochwachsenden Vorhang auf. Ich stand wie versteinert am felsigen Ufer und belichtete ein Bild nach dem anderen. Doch bereits zu Mitternacht begann sich das atemberaubende Lichtspiel langsam aufzulösen. Bögen und Banden gingen in diffuse Flächen über und deuteten ein baldiges Ende an. Um so überraschter schaute ich wie hypnotisiert an den Himmel, als plötzlich riesige Lichtwellen jeweils innerhalb einer Sekunde vom Horizont gen Zenit rollten! In den diffusen Flächen kam es dabei zu periodischen Aufhellungen, als stecke pulsierendes Leben im Himmel...
In den darauffolgenden Tagen führten mich meine Wege in den karelischen Südosten des Landes. Riesige Seen und zahlreiche Städte durchbrachen nun die endlosen Wälder. Es gab mehr Verbindungsstraßen und jede Menge ausgetretener Pfade zu potentiellen Übernachtungsplätzen, sofern irgendwo ein unbewohntes Ufer auftauchte. Am Höytiäinen angelangt, ließ ich mich abermals für zwei Nächte nieder und genoss den Ausblick auf das vor mir liegende gewaltige Gewässer. Eine ungeheure Brandung wuchtete an den Strand, dass ich um mein Zelt bangte, insbesondere tagsüber, als die Wellen bis auf einen Meter an den Eingang rückten... Ich war jedoch keineswegs dazu geneigt, den Platz zu verlegen, da mir dieser einen freien Blick an den kompletten Nordhimmel gewährte.
Während mir die erste Nacht den verdienten Schlaf gönnte, wartete die zweite mit einem Polarlicht auf, welches durchweg von der Abend- bis zur Morgendämmerung den Nordhimmel erhellte! Mittlerweile entsprach dies einer Zeitspanne von mehr als vier Stunden. Ich belichtete ein paar Aufnahmen und legte mich irgendwann ins offene Zelt. Dort schlief ich dann halb beobachtend, denn wenn ich mal aufwachte, lugte ich aus dem Zelteingang auf den strahlenden Vorhang, welcher nur zeitweilig zu einem ruhigen Bogen abflaute. Traum und Realität schienen zu verschmelzen...
Mein Beobachtungssoll erschien mir längst übererfüllt, weshalb ich dem vorerst letzten Polarlicht am 27.8. kaum mehr Beachtung schenkte, als dem Verschwinden der Mitternachtsdämmerung. Dennoch blieb ich auf der Hut und schaute mich weiterhin nach günstigen Beobachtungsplätzen um. Im südlichen Saima-Seengebiet war einmal ein Bauer über meine Nachtlagerwahl dermaßen erbost, dass er mich wild fluchend mit einem Knüppel verjagte und zu guter Letzt noch einen Stein von beträchtlicher Größe nach mir warf! Es war einer der wenigen Tage, wo ich im Schutze der Dunkelheit den nächstbesten Waldweg abbog.
Baltikum
Am 1.9. erreichte ich Helsinki, wo ich wie abgesprochen auf meinen künftigen Weggefährten Thomas Lehmann traf. Wir setzten per Fähre nach Estland über und wollten die letzten 2500 km durch das Baltikum und Polen gemeinsam bewältigen - vorwiegend aus Sicherheitsgründen. Unsere Befürchtungen hinsichtlich der immer wieder angepriesenen Kriminalität sollten sich jedoch nicht einmal ansatzweise bestätigen! Vor allem in Estland begegneten wir einem freundlichen, manchmal sogar zuvorkommenden Menschenschlag. Auch aus touristischer Sicht bemühte man sich, das Land für eine Urlaubsreise attraktiv zu machen. Obwohl in den baltischen Ländern Estland, Lettland und Litauen noch vieles an die Sowjetzeit erinnerte, war eine Orientierung an den Westen längst nicht mehr zu übersehen. Nur die Infrastruktur ließ an vielen Stellen noch zu wünschen übrig. Nicht selten kämpften wir uns stundenlang mit gerade mal 10 km/h gegen Wind und Wetter über wellige Schotterpisten. Ein Vorankommen war insgesamt nur schleppend möglich, schon allein wegen der nun herbstlich geprägten kürzeren Tage. Obendrein setzte noch anhaltendes Regenwetter ein, das fortlaufende Nachtbeobachtungen für gute drei Wochen unmöglich machte. Ich hatte die Polarlichter schon längst aufgegeben, als ich eines abends in Lettland ein ungewöhnliches Leuchten wahrnahm.
Es war der heute oft genannte 11.9., allerdings am Strand des Rigaer Meerbusens. In einer Lücke durchziehender Wolkenfelder registrierte ich eine fahle Aufhellung des Nordhimmels über der Ostsee. Da über dem Meer keine irdischen Lichtquellen als Ursache in Frage kamen und die Dämmerung bereits ihr Ende fand, zog ich eine diffuse Nordlichterscheinung in Betracht. Um auszuschließen, dass es sich möglicherweise um das Licht des aufgehenden Mondes handelt, führte ich eine Langzeitbelichtung durch. Tatsächlich entdeckte ich später auf dieser Aufnahme einen leichten Rotschein, der in Horizontnähe in ein seichtes Grün überging - ein klares Indiz für ein Polarlicht! Bis zur großen Abschlussvorstellung in Nordpolen sollte dies die einzige baltische Sichtung bleiben.
Erst beim Durchqueren Ostpreußens wich der Regen allmählich dem schönsten Altweibersommerwetter, weshalb Übernachtungsplätze mit freiem Nordblick wieder ihren ursprünglichen Stellenwert bekamen. So pirschten wir am Abend des 25.9. eine ganze Weile durch urigen Mischwald, ehe wir uns an einer abgelegenen Lichtung niederließen. Es war frisch geworden. Ein Feuer spendete uns die nötige Wärme, um draußen vor dem Zelt die Stille der Nacht zu genießen. Über der hügeligen Wiese hingen Nebelschleier, die der untergehende Halbmond in ein mystisches Licht tauchte. Im Wald meldete sich hin und wieder ein Kauz zu Wort. Die Stimmung war geradezu fantastisch! Als der letzte Lichtschein des Mondes verschwunden war und die volle Pracht des klaren Sternhimmels zum Vorschein kam, tauchte dicht am Nordhorizont ein rötlicher Strahl auf. Diesem folgte schon bald ein grünlicher Polarlichtbogen, dessen zunehmende Helligkeit nur gelegentlich von vorüberziehendem Bodennebel getrübt wurde. Plötzlich flammten rote bis purpurne Strahlenbanden auf, die sich bis in den Zenit vorkämpften und wenig später den ganzen Nordhimmel in ein glühendes Farbenspiel verwandelten! Doch bereits kurz nach Mitternacht verdichtete sich der aufsteigende Bodennebel und erlaubte in der zweiten Nachthälfte nur noch wenige Male den Blick auf den langsam verblassenden Lichtzauber.
Am nächsten Morgen war die ganze Wiese mit dickem Rauhreif überzogen - der erste richtige Frost kündigte unmissverständlich den nahenden Herbst an. Selbst das Kondenswasser an der Zeltinnenseite fror in den Ecken zu Eis! Trotz allem waren wir von der zurückliegenden Nacht so sehr beeindruckt, dass wir bis zu unserer Heimkehr am 4.10. immer wieder in Erinnerungen an diesen wunderbaren Ort schwelgten, welcher uns so nah an der Heimat noch einmal den ganzen Zauber des Nordens spüren ließ...
Richard Löwenherz
Dieser Bericht erschien in leicht veränderter Form in "Sterne und Weltraum" 7/2003
(monatliche Zeitschrift für Astronomie)
Nachtrag
Mit Beginn des neuen Jahrtausends leitete ein neuer Sonnenzyklus eine Phase höherer Sonnenaktivität ein und verursachte wiederholt eine Verschiebung der Polarlichtzone bis nach Mitteleuropa. Zur gleichen Zeit wurde in den mittleren Breiten ein leichter Rückgang der nur im Sommer auftretenden Leuchtenden Nachtwolken (NLC) verzeichnet. Ich fragte mich, ob es sich bei der NLC-Aktivität um eine generelle Abnahme handelte oder ob es nur zu einer nordwärtigen Verschiebung der Sichtbarkeitsgrenze kam. Ich fragte mich auch, ab wann man in den hellen Nächten des dahinscheidenden Nordsommers Polarlichter sehen kann, denn zu oft wird der Eindruck erweckt, dass dieses Naturschauspiel nur auf die Dunkelheit des lang andauernden Winters beschränkt ist. Die Antwort war verblüffend: Weder Leuchtende Nachtwolken noch Polarlichter machten sich rar! Ich verbrachte unzählige schlaflose Nächte im Banne des immerwährenden Lichtes, da ich mir keines dieser zauberhaften Lichtspiele entgehen lassen wollte. Aufgrund der intensiven Nachtbeobachtungen war diese Radtour von einer einzigartigen Stimmung geprägt, die ich seither auf keiner weiteren Reise wiedergefunden habe...
Übersicht zu den NLC- und Polarlichtbeobachtungen...
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