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Steppenritt bis zum Bicycle Breakdown...
Mit einem koreanischen Fahrrad quer durch die Mongolei

Vöörög Delijn els. Am Rande einer scheinbar endlosen Sandwüste durchquere ich seit drei Tagen menschenleeres Gebiet. Jurten gibt es hier nur wenige, denn Wasser ist rar. Aus den Bergen kommend fließen ein paar Bäche in das Wüstenbecken hinab, doch schon nach wenigen Kilometern versiegen diese im staubigen Untergrund.
Nach einem kurzen Halt in Baruunturuun, wo ich in einem kleinen Laden meine Wasser- und Proviantreserven aufstocke, brettere ich auf einer fast schon vorzüglich glatten Erdpiste der nächsten Oase entgegen - dem Wüstenort Dsuungov'. Eine unglaubliche Stille liegt über der platten Ebene. Nach Durchzug einer Wetterfront mit viel Wind und wenig Regen, kommt mir das laue Lüftchen im weichen Licht der untergehenden Sonne recht surreal vor. Ich habe das Gefühl, durch eine Landschaft zu wandeln, deren ferne Horizontkulisse untrennbar mit dem Himmelsgewölbe zusammenhängt - so wie in einer dieser mittelalterlichen Darstellungen, als sei der mich umgebende Kosmos wie eine Kuppel über meinen Kopf gespannt...
Doch dann passiert das, was ich eigentlich schon lange erwartet hatte: nach 24 Tagen und mehr als 1200 km auf mongolischen Pisten tritt endgültig der technische k.o. meines geschundenen Rades ein. Mit neun gebrochenen Speichen am Hinterrad kann ich mein treues Gefährt nun nicht mal mehr schieben... Eine Reparatur scheint unmöglich, denn seit einer Woche lässt sich der Zahnkranz nicht mehr abschrauben, um die auf jener Seite gebrochenen Speichen ersetzen zu können. Da saß ich nun am Wegesrand und hoffte wie an ein Märchen glaubend auf eine Mitfahrgelegenheit, die mich aus dieser Misere retten könnte...

Anreise

In die Mongolei verschlug es mich eigentlich nur deshalb, weil ich im Zuge meines Geographiestudiums an einem Geländepraktikum teilnehmen wollte, in dem Arbeit und Abenteuer Hand in Hand gehen. Und was ist da naheliegender, als die ferne Mongolei... Ebenso naheliegend war für mich, aus dem universitären Ausflug eine kleine Weltreise zu gestalten. Ich wollte nicht einfach nur hinfliegen, ein dreiwöchiges Praktikum hinter mich bringen und dann wieder zurückfliegen. Ich wollte Zeit und Möglichkeiten ausreizen, mit der Transsibirischen Eisenbahn in das Land einreisen und mit einem vor Ort gekauftem Fahrrad wieder ausreisen.
Auf dem Hinweg musste alles reibungslos gehen, so dass ich mein Flugticket bis Moskau und das Bahnticket bis Ulaanbaatar bereits vor Abreise in den Händen hielt. Da ich noch nie im Leben so weit nach Osten vorgedrungen war, hatte vor allem die vier Tage und fünf Nächte dauernde Fahrt mit der Transsib einen besonderen Reiz auf mich. Anders als bei einem nur wenige Stunden andauernden Flug lässt sich mit dem Blick aus dem Zugfenster die durchquerte Dimension des eurasischen Kontinents recht gut nachempfinden, so dass ich eine gute Vorstellung davon bekam, wo mich die Bahn am Ende ausspucken würde.
In Ulaanbaatar angelangt wurde ich direkt vom Bahnhof abgeholt und ohne Umschweife in den Vorort Jarmag verfrachtet. Sabina, die ich über das Internetforum bei mongolei-online.de kennenlernte, hatte sich bereiterklärt, mir beim Kauf eines Fahrrades zu helfen und alles weitere zu regeln, was ich bei meinen ersten Gehversuchen in diesem mir so fremden Land allein nur mühsam hinbekommen hätte... Gemeinsam klapperten wir die fernöstlich angehauchten Märkte ab und fanden auf dem Schwarzmarkt "Narantuul" zu meinem Erstaunen für nur 100.000 Tögrök (umgerechnet 68 Euro) ein recht sportlich anmutendes koreanisches Mountainbike mit 21 Gängen und allem Pipapo, was man so von unsereins kennt. Die meisten Räder hatten sogar Federgabeln und frei hängende Sättel - das eine, mit dem ich liebäugelte, zum Glück nicht... Der Gepäckträger war allerdings etwas dürftig für meine mitgebrachten 40 kg Gepäck, zumal da noch eine ganze Menge Proviant dazukommen sollte. Schutzbleche und ein Vorderradgepäckträger fehlten komplett. Aber das war kein Problem, im "Narantuul" war einfach alles zu kriegen...
In Sabinas kleinem "Ger Hotel", einer Gästeunterkunft aus Jurten (mong. Gers), habe ich dann meinen "Yak", wie ich meinen Neukauf taufte, reisetauglich gemacht. Schläuche mit Kfz-Ventilen und einen Fahrradcomputer mit Sensor und Magnet hatte ich aus weiser Voraussicht schon aus Deutschland mitgebracht. Werkzeug, Ersatzteile und eine kleine dreiteilige Fahrradtasche ebenfalls. Das bereits daheim ausgetestete Packsystem war so angedacht, dass der Mammutteil des Gepäcks in meinem 50l-Wanderrucksack den Heckballast ausmachen sollte, während Zelt und Schlafsack ihren Platz über dem Vorderrad finden mussten. Mit dieser Konstruktion bin ich bis zum Ende meiner Radtour ohne Veränderungen durchgekommen.

Geländepraktikum und Exkursion

Aber bevor es los gehen sollte, stand erstmal das Geländepraktikum auf dem Plan. Ich ließ meinen "Yak" in Sabinas Garage zurück und wechselte über zu den mittlerweile vollzählig eingetroffenen Studenten. Neben den zehn deutschen Kommilitonen waren dies auch fünf Mongolen und fünf Chinesen, mit denen wir fortan unsere Aufgaben zu bewältigen hatten. In einem geländegängigen Bus russischer Herkunft mitsamt mongolischem Fahrer bretterten wir innerhalb eines Tages rund 320 km nach Westen - von der Hauptstadt Ulaanbaatar bis zu unserem Untersuchungsgebiet am See Ögij nuur fernab jeder Zivilisation. Proviant für die kommenden zwei Wochen hatten wir im Bus gebunkert. Eine mongolische Köchin war auch mit von der Partie, so dass in Bezug auf unser leibliches Wohl eigentlich nichts schief gehen konnte.
Auf einer Halbinsel unmittelbar zu Füßen eines Jurtencamps für Touristen schlugen wir unsere Zelte auf und ließen erstmals die fantastische Stimmung der weiten baumlosen Steppe auf uns wirken, die bei Sonnenuntergang in ein beeindruckendes Licht getaucht wurde. Der Himmel war so klar und sauber, dass man des Nachts von einer Sternenflut regelrecht überwältigt wurde. Selbst die Milchstraße schien in ihrer strahlenden Pracht den Horizont zu berühren...
Die zwei Wochen am Ögij nuur vergingen wie im Fluge, so dass manche am Ende des Praktikums meinten, es wäre doch erst eine Woche um. Jeden morgen krabbelten wir mit den ersten Sonnenstrahlen aus unseren Zelten, frühstückten an breiter Tafel, die von einem eingeteilten "Küchendienst" vorbereitet wurde, und ließen uns anschließend mit dem Geländebus in das jeweilige Teilgebiet des Untersuchungsraumes bringen. Unter sengender Sonne kartierten wir zunächst das Gelände bezüglich Formgestaltung, Vegetation und Erosion. Wir machten Messungen zu Hangneigung, Abfluss und Versickerung, notierten alle von Mensch und Weidetier hervorgerufenen Spuren und befragten die ansässigen Nomadenfamilien zu ihren Tierbeständen und Wanderbewegungen. Das alles in Hinblick auf eine mögliche Landdegradierung durch Mensch und Klima.
Am Nachmittag zogen dann meist dunkle Gewitterwolken auf, die sich einige Male in einem Weltuntergangsszenario über uns austobten. Zum Glück waren wir in solchen Momenten schon wieder an unserem Lagerplatz und konnten so manches flugtaugliche Zelt von seinen wild flatternden Fluchtversuchen zurückhalten. Einmal haben jedoch heftige Gewitterböen unseren Küchenunterstand total zerfetzt, so dass ein Großteil des Proviants nass wurde. Mehr als die Hälfte unserer Brotreserven musste daraufhin weggeworfen werden... Nichtsdestotrotz blieben wir stets bei guter Stimmung und ließen die Abende in geselliger Runde ausklingen. Dabei kamen wir über die mongolischen Studenten wiederholt in den Genuss landestypischer Spezialitäten, wie Ajrag, der vergorenen Stutenmilch, oder Nermel, dem daraus gewonnenen Destillat, auch Milchschnaps genannt. Nebenbei stimmten vor allem die Mädels immer wieder zu traditionellen Liedern an, die einige von uns wohl mit in den Schlaf genommen haben...
Alles in allem waren es zwei wunderbare Wochen, die eher einem Ferienlageraufenthalt glichen, als einem Geländepraktikum. Um dieser Zeit noch einen würdigen Abschluss zu geben, folgte unter der Leitung des Professors der mongolischen Studenten noch eine einwöchige Exkursion in das Changajgebirge. Auf wilden Pisten, die sich Hauptstraßen nannten, arbeiteten wir uns in drei Etappen bis zum See Terchijn Tsagaan nuur vor, wo wir schließlich für drei Nächte verweilten. Auf kleinen Ausflügen erkundeten wir in dessen Umgebung eine Landschaft, die sich wohl am Besten als eine Mischung aus Island und Sibirien beschreiben lässt. Wir besuchten Lavahöhlen und krochen über ausgedehnte Lavafelder zu den erloschenen Vulkanen. Das alles umrahmt von lichten Lärchenwäldern, die man nach zwei Wochen in der offenen baumlosen Steppe so nicht erwartet hatte. Wir waren von dieser Landschaft derart fasziniert, dass wir selbst in unserer Freizeit vom Lagerplatz aus die Berghänge hinaufkrochen und eines Nachts sogar auf dem felsigen Grat eines halb bewaldeten Berges ein Lagerfeuer entzündeten, um mit grandiosem Ausblick auf den See unter freiem Himmel zu übernachten.
Auf dem dreitägigen Rückweg nach Ulaanbaatar (auch UB genannt) legten wir noch einen Zwischenstopp an den heißen Quellen bei Tsencher Jiguur ein, besichtigten leicht nach Schwefel müffelnd die buddhistische Tempelanlage der alten Hauptstadt Charchorin (einst Karakorum) und übernachteten einmal zu Füßen der gewaltigen Felsburgen Chögnö Chan. Damit endete schließlich der von den Unis geleitete Teil meines Mongolei-Aufenthalts. Zurück in UB verabschiedete ich mich von allen und stand voller Enthusiasmus vor meinem ganz persönlichen Bonus - der Fahrradtour als Teil meiner Rückreise nach Europa...

Ulaanbaatar - Mörön

Da ich bei der Ausländerbehörde in UB mein 60-Tage-Visum nicht verlängert bekam, stand mir für den Fahrradritt leider nur noch ein Monat zur Verfügung. Nun hatte ich mir aber vorgenommen, keine Runde zu drehen, sondern auf direktem Wege nach Westen zu fahren, um die Mongolei über das Altajgebirge zu verlassen. Ich wusste, dass es für mich kein Zurück mehr gibt, wenn ich einmal losgefahren bin und ich wusste, dass ich mich beeilen müsste, um die Grenze fristgerecht zu erreichen. Ich rechnete bei einer über den Daumen gepeilten Gesamtstrecke von etwa 1200 km mit einem Tagessoll von 40 km. Das sollte kein Problem sein, dachte ich mir, aber schon nach den ersten Tagen auf Achse bemerkte ich, dass etwas faul war an meiner Planung. Selbst auf den gut befahrenen Pisten schaffte ich nur mit Mühe 50-60 km am Tag. Zudem fiel mir auf, dass ich die Distanz zur Grenze gewaltig unterschätzt hatte - um sage und schreibe 500 km! In Wirklichkeit waren es nämlich 1700 km, was bedeutete, dass ich tagtäglich bis an meine Grenzen gehen müsste...
Die ersten zwei Wochen waren ziemlich hart, da ich mich selbst unter Druck setzte und mit allerhand Problemen zu kämpfen hatte. Durch die hohe Belastung nach gut fünf fahrradfreien Wochen machte ich mir gleich zu Anfang die Knie kaputt, so dass bald jeder kleine Anstieg zu einer schmerzhaften Prozedur ausartete. Dann kamen da noch eine hübsche Erkältung, jede Menge Gegenwind und wiederholte Speichenbrüche hinzu, weshalb in mir zunehmend Zweifel wuchsen, alles per Pedale zurücklegen zu können. Und als ob das nicht schon genug war, wollten mich gleich hinter Bulgan, der ersten Stadt nach UB, auch noch zwei besoffene Gauner umbringen und an einem Baum aufhängen, nur weil ich deren Vodka ablehnte. Mit 10.000 Tögrök (6,80 Euro) konnte ich mich allerdings freikaufen... Weitaus schlimmer traf mich da der totale k.o. meiner Kamera, da ich noch nicht mal richtig losgefahren war und plötzlich nichts mehr fotografieren konnte. Denn gerade die abwechslungsreichen Landschaften und die einmaligen Lichtstimmungen waren es, die mich noch recht gut bei Laune hielten.
Inzwischen hatte sich der mongolische Herbst mit seiner Trockenzeit eingestellt. Es gab nur noch vereinzelt leichte Niederschläge, so dass ich mir etwa jede zweite Nacht das Zelt aufbauen sparen konnte. Diese pragmatische Prozedur hatte auch den Vorteil, dass ich inmitten der schutzlosen weiten Steppe den Überblick behielt und nahende Besucher schon rechtzeitig ausmachen konnte. Meist waren dies irgendwelche Reiter, die ihre Tiere vor sich her trieben. Doch hatten sie mich erst einmal entdeckt, waren sie nicht mehr loszukriegen, saßen teilweise einfach nur da und kuckten mir bei meinem Tagewerk zu, wie unsereins einen Kinofilm, bis ich irgendwann selber abhaute...
Nach zwei Wochen und 750 km erreichte ich schließlich Mörön, die zweite Stadt nach UB. Ich hatte bereits 12 Speichenbrüche hinter mir, die ich mit meinen 10 mitgebrachten Reservespeichen weitestgehend ausgleichen konnte. Mit einer hübschen Acht im Hinterrad rollte ich bei starkem Gegenwind mühsam nach Mörön hinab. Sand und Staub erfüllte die Luft. Ich hoffte hier einen Markt zu finden, auf dem ich mir ein paar neue Speichen kaufen könnte, denn ohne weitere Speichen wäre meine Tour hier zu Ende gewesen. Zunächst hielt ich jedoch Ausschau nach einer Ger-Unterkunft. Nicht nach irgendeiner, sondern nach einer ganz speziellen namens "Baigals Guest House". In Berlin hatte ich bei einem Lichtbildvortrag Henne kennen gelernt, der zwei Jahre vor mir hier mit dem Fahrrad entlang gekommen war. Er hatte mir Fotos mitgegeben, die ich der Baigal persönlich überreichen wollte. Baaska, die Nichte, schaute nicht schlecht, als da plötzlich ein "Kurier" mit schwer bepacktem Rad auftauchte. Sie erinnerte sich an Henne und mir schien es, als behandelte sie mich deswegen wie einen Ehrengast. Sie begleitete mich bei meinen Einkäufen, half mir beim Übersetzen und brachte mich zu einem Händler, der alle möglichen Fahrrad-Ersatzteile anbot. Speichen hatte der auch und so sackte ich gleich 15 neue ein.
Noch am selben Abend brachte ich meinen "Yak" wieder in Schuss, übernachtete ganz allein in einem riesigen Touri-Ger mit 5 Betten und machte mich gleich in aller Frühe hochmotiviert auf die Socken. Die Verabschiedung war sehr herzlich. Als Fremder war ich gekommen und als Freund ging ich. Die ganze Familie stand am Tor und winkte mir noch lange hinterher...

Mörön - Ulaangom

In den folgenden Tagen arbeitete ich mich auf einsamen Pisten immer weiter nach Westen vor. Touristen gab es hier keine mehr. Bis zur nächsten Stadt Ulaangom waren es diesmal ganze 700 km... Nachdem ich die tiefen Schluchten des Delger Mörön verließ, überquerte ich einige Tage ein 2000 m hohes Steppenplateau, welches von Millionen von Mäusen bewohnt und wie ein Schweizer Käse durchlöchert war. Drei Tage lang war ich von einem ununterbrochenen Piepsen der um mich herum flüchtenden Mäuse umgeben, so dass ich an den Abenden jedes Mal wie hypnotisiert der untergehenden Sonne entgegen holperte. Murmeltiere gab es hier wohl auch mehr als anderswo. Eines Morgens waren schon bei Sonnenaufgang aus allen Richtungen Schüsse zu hören, als befände ich mich unwissenderweise in einem Krisengebiet. Beim Kochen meiner Morgensuppe hatten mich dann auch zwei Bengel mit Flinte entdeckt und fuhren neugierig auf meinen Lagerplatz zu. Aber nicht, dass sie was von mir wollten - nein, ihr Interesse galt nur einer guten Beute. Nach einem kurzen Wortwechsel fuhren sie weiter und warfen sich am nächstbesten Murmeltierbau mit Flinte und Zweibein ins Korn. Ein anderes Mal aber begegnete ich einem erfolgreichen Murmeltierjäger, der in seinem Jagdglück sogar nach einer wackeligen Probefahrt sein Motorrad gegen meinen "Yak" tauschen wollte. Anscheinend, weil ich erwähnte, damit von UB bis zu jenem Ort gefahren zu sein...
Vielleicht hätte ich wirklich tauschen sollen, denn kurz vor Tsetserleg musste ich feststellen, dass sich der hintere Zahnkranz nicht mehr abschrauben ließ und damit alle folgenden Speichenbrüche, die noch immer an der Tagesordnung waren, auf jener Seite nicht mehr zu ersetzen waren. Es war also nur noch eine Frage der Zeit, bis mein "Yak" vollkommen im Eimer sein würde, zumal mir schon ein paar Tage zuvor der hintere Gepäckträger gebrochen war und auch das Tretlager bereits deutliche Auflösungserscheinungen zeigte. Mir wurde klar, dass ich mich unbedingt ein Stück mitnehmen lassen muss, um die Grenze überhaupt noch zu erreichen. Doch echte Mitfahrgelegenheiten gab es schon seit Mörön keine mehr und so dachte ich, fahr ich erstmal noch so weit es geht.
Und ich hab es nicht bereut! Hinter Tsetserleg, einer "Stadt" kaum größer als ein kleines Dorf, folgten die mit Abstand schönsten Landschaften der Mongolei - eine Mischung aus Alaska, Lappland und Zentralasien. Der Herbst hatte die Steppe mittlerweile in ein goldenes Gelb getaucht und auch die lichten Lärchenwälder, die in der Flussaue des Tes-Flusses mit den ersten sibirischen Fichten durchsetzt waren, hatten schon die vielfältigsten Farben angenommen. Dazu ein herrlich blauer Himmel und eine stille Abgeschiedenheit, wie ich sie mir schöner nicht hätte vorstellen können. Die Trockenheit des kontinentalen Herbstes brachte zudem die größten Temperaturschwankungen zutage, die ich je erlebt hatte. Nachts gab es regelmäßig Frost bis -5°C, doch tagsüber ging es meist auf über 20°C rauf. Wegen des wunderbaren Wetters übernachtete ich wieder oft ohne Zelt, meist im Schutze kleiner Hügelsenken, oder auf exponierten Felsgraten, einmal aber auch direkt in einem der märchenhaften Auwälder. Etwas unheimlich wurde mir jedoch, als eines Nachts aus einem solchen Wald Wolfsgeheul ertönte...
Am Unterlauf des Tes-Flusses gelangte ich in ein Gebiet mit vielen beeindruckenden Felsburgen und erreichte schließlich die Wüste Vöörög Delijn els. Es war einer der faszinierendsten Momente der Tour, als ich nach wochenlanger Kraucherei durch ein immer schroffer werdendes Gebirge plötzlich vor einem riesigen sandgefüllten Becken stand. Es war, als ob man auf ein Meer zufährt, in dem die kantigen Berge wie Felsen in der Brandung abtauchten. Vor allem das vorgelagerte, bis fast an den Weg reichende Dünenfeld wirkte wie eine wild tosende See, die in ihrer Bewegung erstarrt war...
Es erfüllte mich mit einer gewissen Zufriedenheit, diesen markanten Landschaftswechsel noch im Sattel meines "Yaks" erlebt zu haben, denn der technische Zustand des Karrens erlaubte nur noch ein Warten auf den großen Knall. Dieser folgte dann auch so plötzlich, wie ich es erwartet hatte, denn als die neunte Speiche auf der Zahnkranzseite brach, bekam das Hinterrad einen so großen Ausschlag, dass es sich gnadenlos im Rahmen verkantete. Jetzt blieb wahrlich nur noch die Hoffnung auf eine baldige Mitfahrgelegenheit... Doch das hätte unter Umständen Tage dauern können und so versuchte ich mit den mir vorhandenen Mitteln zu improvisieren. Da es mir unmöglich war, die Ersatzspeichen als Ganzes am Zahnkranz vorbeizufädeln, zwirbelte ich mir aus Draht vier Hilfsspeichen und versuchte damit die Riesen-Acht am Hinterrad wenigstens soweit zu richten, dass ich mein Rad wieder schieben könnte. Und es hat tatsächlich funktioniert! Ich wollte es selbst kaum glauben, aber sogar Fahren war wieder möglich, wenngleich ich immer wieder anhalten und meine verrückte Aushilfskonstruktion nachspannen musste.
Den 30 km entfernten Wüstenort Dsuungov' hab ich auf diese Weise noch am selben Tag erreicht und auch hier war mir das Glück im Unglück weiter hold, denn zufällig traf ich einen englisch sprechenden Mongolen, dem ich mein Zahnkranz-Problem darlegen konnte. Dieser fand für mich einen Jungen, der allem Anschein nach in der Lage war, mein Problem zu lösen... Von einer Horde begeisterter Kinder angeschoben, rollte ich mit ihm zu sich nach Hause und los ging es mit dem Gewerkel. Mit einem dreifachen Schraubenkonter versuchten wir die störende Mutter zu lockern, die dem Zahnkranz-Abzieher im Weg war. Und auch das hat funktioniert! Als der Zahnkranz endlich ab war, begannen wir mit einer wilden Umspeicherei, die wir jedoch wegen der schon bald hereinbrechenden Nacht unterbrechen mussten. So übernachtete ich auch gleich bei der Familie des Jungen und war wieder einmal erstaunt über die spontane Hilfsbereitschaft und so selbstverständlich erscheinenden Gastfreundschaft.
Nachdem wir am nächsten Morgen den großen Reparaturakt beendet hatten, offenbarte sich mir ganz plötzlich der geniale Umstand, dass ich ohne motorisierte Hilfe weitermachen könnte, denn ich hatte das, woran ich nicht mehr zu glauben wagte: einen noch immer fahrtüchtigen "Yak"! Und obwohl ich immer noch ein wackeliges Tretlager und einen gebrochenen Gepäckträger hatte, war ich auf einmal zuversichtlich, nicht nur Ulaangom, sondern auch Sibirien aus eigener Kraft erreichen zu können. Allerdings war es mittlerweile unmöglich geworden, die Grenze selbst unter den günstigsten Radel-Bedingungen fristgerecht zu überqueren, so dass ich erstmal nach Ulaangom fahren wollte, um dort jemanden anzuheuern, der mich ein Stück in die Berge des Altaj mitnimmt. Also verabschiedete ich mich kurzerhand von der Familie und bedankte mich mit kleinen Geschenken.
Entlang des Uvs nuur, dem flächenmäßig größten See der Mongolei, gab es jedoch Sand und Wellpiste bis zum Erbrechen. Ich verfluchte meine Entscheidung, nicht gleich auf ein Fahrzeug umgestiegen zu sein, hätte ich doch meine letzten Tage lieber in den Bergen verbracht, als in dieser endlos platten Trockensteppe. Doch als am Westhorizont die ferne Bergkulisse mit den ersten Drei- und Viertausendern des näher rückenden Altajgebirges auftauchte und nach einem herrlichen Sonnenuntergang in das Licht der Abenddämmerung gehüllt wurde, war ich regelrecht entzückt, diese fantastische Stimmung der sich wandelnden Landschaften noch in Stille und Abgeschiedenheit erleben zu dürfen. Derweil schmiedete ich schon den Plan, bis zur Grenze einfach weiterzuradeln, auch wenn dies bedeutete, meine Visafrist überziehen zu müssen...
In Ulaangom wollte ich mich daher auch nicht lange aufhalten, denn zu lange hatte ich diese Stadt sehnlichst und bangend auf der Zunge, als wäre hiermit schon mein Hauptziel erreicht. Quasi im Vorbeifahren kaufte ich mir auf dem dortigen Markt wieder einen Satz Speichen (diesmal 20), sackte ordentlich Proviant ein und ließ mir am Straßenrand noch schnell den hinteren Gepäckträger schweißen und das Tretlager anziehen. Nach zweieinhalb Stunden rauschte ich schon wieder dem Altaj entgegen.

Altaj

Aus der Stadt heraus gab es ein paar Kilometer Asphalt, doch als es in die Berge hinauf ging, hatte ich wieder die üblichen Erdpisten vor mir, die je nach Umgebungssubstrat glatt, steinig oder sandig sein konnten. Einen ganzen Nachmittag hab ich in der majestätisch aufragenden Bergwand gestanden, um die stark ansteigenden 800 Höhenmeter zum ersten 1970 m hohen Pass zu knacken. Oben angekommen hatte ich auch gleich das Gefühl, einem echten Hochgebirge zu begegnen. Herrliche Bergwelten umgaben mich: im Süden vergletschert und verschneit, im Nordwesten in Wolken gehüllt. Dazu eine zugige Arschkälte im Dämmerlicht - das war Gebirgsstimmung pur! Tagsüber, wenn die Sonne schien und kaum Wind wehte, war es jedoch noch recht angenehm. Am Utschreg nuur, einem von prächtigen Bergzügen umrahmten Salzsee, bin ich dann ein letztes Mal ins Wasser gehüpft, bevor mir der nahende Winter auch am Tage Schneeflocken um die Ohren wirbelte.
Der zweite Pass hatte schon eine Höhe von 2300 m. Von hier aus fiel mein Blick das erste Mal auf den bereits tief verschneiten Viertausender Ich Turgen uul, den es von nun an zu umrunden galt, denn der Grenzübergang lag genau hinter diesem. Das war an jenem Tag, an dem ich die Mongolei eigentlich hätte verlassen müssen. Zunächst lag jedoch noch das Atschit nuur-Becken vor mir, welches zwar nur 40 km breit war, aber durchweg aus grobem Flussbettschotter bestand. Da war streckenweise an Fahren überhaupt nicht mehr zu denken oder ich hätte meinen "Yak" gleich selber zerkloppen können... Das Panorama war dagegen erste Sahne, zumal ich nach dem kleinen Winterintermezzo wieder Sonne pur hatte! Die frisch verschneiten Viertausender im Kontrast zum tiefblauen Himmel ließen mich immer wieder innehalten und staunende Blicke auf dieses unwirtliche und doch so schöne Land werfen. Als dann noch ein zu furtendes Flüsschen auftauchte, deren herbstlich angefärbte Gebüschaue eine einzige knallgelbe Ulme beherbergte, musste ich wieder einmal mein Feldbuch zücken und ein paar Landschaftseindrücke zeichnen, die ich liebend gerne auf Film gebannt hätte...
Aus dem Schotterbecken heraus führte dann ein verwinkelter Weg durch wilde Schluchten bis hinauf nach Tsagaannuur, der ersten Siedlung seit Ulaangom, und von dort weiter zum Grenzübergang, welcher mit 2485 m der höchste Punkt meiner Radreise wurde. Auf jenem Weg begegneten mir wieder ein paar mehr Menschen, die jedoch unbekannterweise nicht mehr zurück grüßten. In Tsagaannuur war mir dann alles klar, als ich Kinder mit bunt bestickten Kappen neben mir herlaufen sah und kurz darauf an einer kleinen Kuppel mit goldenen Halbmond vorbei fuhr: es waren islamisch gläubige Kasachen, die man anscheinend nur im äußersten Westen der Mongolei antrifft. Der Ort selbst sah jedoch aus wie ein iranisches Bergdorf kurz nach einem Erdbeben - lauter Ruinen und ärmliche und heruntergekommene Behausungen.
Die Grenzüberquerung am dritten Tage nach meinem offiziell letztmöglichen Ausreisetermin verlief entgegen meiner Erwartungen relativ problemlos. Auf mongolischer Seite ging alles ganz fix und erstaunlicherweise ohne große Fragen. Eine Frau in Uniform füllte sogar meine "Migrationskarte" aus und machte mich lediglich auf die abgelaufene Gültigkeit des Visums aufmerksam. Ich fragte, ob das ok sei und sie antwortete: "ja, ok..." Dann gab es noch ein paar Diskussionen, möglicherweise wegen der zwei Pässe, die ich mit mir führte (in dem zweiten "Grünen Reisepass" war das russische Visum für die Rückfahrt, da keine zwei russische Visa in einen Pass durften...), und schon ging es per forschem Fingerzeig wieder raus.
Auf russischer Seite entpuppte sich das Ganze jedoch als allgemein langwierige Prozedur, da zunächst direkt an der Grenze, also noch vor dem eigentlichen Abfertigungsposten, die Mittagspause der Russen abzuwarten war. Derweil wurden die Pässe der Wartenden schon mal einer Vorkontrolle unterzogen, noch bevor irgendjemand einen Fuß in das glorreiche Russland setzen konnte. Bei solch peniblen Sicherheitsvorkehrungen war es natürlich nicht verwunderlich, dass ich die 20 km breite Grenzzone bis zum Abfertigungsposten in Taschanta auf keinen Fall radelnd durchfahren durfte. Also hat man mich kurzerhand angewiesen, meinen bepackten "Yak", so wie er dastand, auf das Dach eines ebenfalls wartenden Geländewagens zu hieven, der als Transporter bereits vier Damen mitsamt Gepäck beherbergte... In Taschanta war dann wieder stundenlanges Warten angesagt, weil jedes Fahrzeug zunächst an den Reifen desinfiziert und anschließend eins nach dem anderen auseinander genommen wurde. Die Passkontrolle selbst verlief zwar wieder mit ein paar Diskussionen, aber auch hier an sich problemlos und durch sehr freundliches Personal. Dann hat man mein Gepäck noch ein bischen gefilzt und ab ging es gegen den kalten Westwind in die nun russische Steppe.
Kurz hinter Taschanta kam ich nach der pausenlosen Hatz der letzten Tage endlich mal zur Ruhe und widmete mich nach einer mit -10°C schon sehr frostigen Nacht der Reparatur meines erneut geschundenen Fahrrades. Dabei bemerkte ich erst kurz vor meiner Weiterfahrt, dass ich mein Zelt ausgerechnet an einem Fels aufgeschlagen hatte, der mit lauter uralten Zeichnungen versehen war. Alle anderen Felsbrocken, die ich mir daraufhin anschaute, waren ohne steinzeitliche Verzierungen...
Der russische Altaj unterschied sich vom mongolischen ganz gewaltig. Zunächst war die Trasse M52, auf der ich mich jetzt bewegte, durchweg asphaltiert. Dörfer, bestehend aus den typisch sibirischen Holzhäusern, gab es wieder in kürzeren Abständen. Diese waren auch gut versorgt, so dass ich wieder in regelmäßigen Abständen einkaufen konnte. Der größte Kontrast zur Mongolei war jedoch der Wald. Als die kalte Hochsteppe hinter Taschanta (wo es nachts bis zu -15°C kalt wurde) in tief eingeschnittene Schluchten überging, tauchte ich mit einem Schlag in die Waldzone Sibiriens ein. Diese bestand vorwiegend aus Lärchen, die allesamt in einem grellen Gelbton die Berghänge säumten. Dazu bedrohlich nah an die Straße rückende Bergmassive mit schneebedeckten Gipfeln, die bei klarem Himmel und herrlichem Sonnenschein den sibirischen Herbst zu einem regelrechten Genuss machten.
Tschuja und Katun' waren die maßgeblichen Flüsse, die den Weg durch den russischen Altaj ebneten. Manchmal ragten jedoch so steile Felswände empor, dass die Straße direkt in das Gestein geschlagen werden musste. Und dort, wo das Flusstal für einen weiteren Verlauf der Straße zu wild wurde, windete sich das Asphaltband über kleinere Pässe. Am letzten Pass brach mir schließlich der hintere Gepäckträger in so viele Einzelteile, dass ich ihn endgültig gegen den die ganze Zeit am Vorderrad mitgeschleppten Reservegepäckträger einwechseln musste. Auch das Tretlager hatte sich mittlerweile so weit aufgelöst, dass man überhaupt nix mehr dran drehen konnte. Ich machte mir schon Gedanken, ob es sich überhaupt noch lohnen würde, den gebeutelten "Yak" mit nach Hause zu nehmen, oder ihn einfach stehen zu lassen bzw. zu verschenken, falls sich eine Gelegenheit bieten sollte.
Doch als ich nach 600 km auf russischem Boden schließlich Bijsk mit dem ersten Bahnhof seit UB erreichte, war für mich klar: ich nehme ihn mit! Das Unfassbare war wahr geworden, denn ich hatte es geschafft mit einem vor Ort gekauften koreanischen Fahrrad von Ulaanbaatar bis Bijsk durchzuradeln - und das, obwohl es zwischenzeitlich so aussah, als würde ich damit nicht mal bis Ulaangom kommen... Ein Fahrrad, dass mir so treu geblieben war, wollte ich nicht würdelos in irgendeiner Ecke stehen lassen, zumal ich damit noch ein Stück durch Finnland fahren wollte.

Rückreise

Der Abschied von Sibirien war nicht besonders prickelnd: geregnet hat es wie aus Kübeln, als ich nach Bijsk hineinfuhr - das erste Mal seit fünf Wochen bzw. das zweite Mal überhaupt seitdem ich mit Rad unterwegs war. Der letzte Regen brachte den Herbst, so dass der jetzige eigentlich nur den Winter ankündigen konnte. Und so war es auch. In Novosibirsk, wo ich 20 Stunden auf meinen Anschlusszug nach St. Petersburg warten musste, war bereits richtiger Winter mit einer geschlossenen Neuschneedecke und Temperaturen um 0ºC (auch nachmittags!). Zwei Tage zuvor gab es im Lee des Altajs noch Föhn mit sommerlichen 27°C...
Weiter westlich hielt sich jedoch noch wacker der Herbst mit anhaltendem Regenwetter. Drei Tage lang durchquerte ich mit der Bahn den eurasischen Kontinent - von Novosibirsk bis Helsinki - von Sibirien bis Finnland - und es hat die ganze Zeit von Ost nach West geregnet... Das Ende der Radtour hatte ich anscheinend wunderbar abgepasst, denn bei so einem Sauwetter noch zu fahren, wäre auf die letzten Tage nicht sehr berauschend gewesen.
In Finnland war es dann zum Glück wieder trocken und so radelte ich wie geplant noch drei Tage von Helsinki bis Hanko, um von dort mit der Fähre direkt nach Deutschland überzusetzen. Drei Monate zuvor war ich mit einem Rucksack von Berlin gestartet und nun mit einem bepackten Rad und jeder Menge einmaliger Erlebnisse wieder zurück in der Heimat. Zweifellos war dies meine abenteuerlichste Reise, die ich bisher gemacht hatte...

Richard Löwenherz      

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© 2008 by Richard Löwenherz