Über den Suntar-Chajata zum Ochotskischen Meer...
Teil 5: Portage zur Ketanda
Durch die Taiga zum See Podgornoe
Am nächsten Morgen verstaute ich meine Ausrüstung wieder in zwei Rucksäcke. Durch den fast aufgebrauchten Proviant gab es schon etwas mehr Platz, doch alles auf einmal zu schleppen, kam mir immer noch zu heftig vor. Am Lager der Rentierzüchter hatte ich es mal probiert, das ganze Gepäck in einem Durchgang bis zur Hütte zu tragen (etwa 1 km). Ich musste mehrere Pausen einlegen und hatte hinterher noch tagelang Rückenschmerzen... Das wollte ich mir diesmal ersparen und entschied mich für das bewährte Vortragen des einen und Nachholen des anderen Rucksacks. Angesichts des schwierigen Geländes sollte das auch die beste Entscheidung sein. Vorerst jedenfalls...
Am Ufer der Judoma hinterließ ich Robert wieder eine Nachricht im Sand: „Ausstieg/Nachtlager 2./3.7.“. Ich rechnete damit, dass er etwa eine Woche nach mir hier eintreffen würde. Doch am Ende waren es 13 Tage und wie ich später von ihm erfuhr, ist er das ganze Ufer abgelaufen, um eine Nachricht von mir zu finden, denn bis hier hatte er noch kein Zeichen von mir erhalten. Doch auch diesmal fand er nichts, auch keine Stiefelabdrücke, dafür lauter neue Bären- und Wolfsspuren... Das Beste wäre gewesen, in der kurz zuvor besuchten Hütte einen Zettel zu hinterlassen. Doch ob der dort knapp zwei Wochen geblieben wäre, ist auch fraglich, da in der Zwischenzeit an der Hütte weitergebaut wurde.
Das Wetter war gut – kein Regen, kein Wind und nicht zu warm. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, dass es auch während der Schlepperei durch unwegsames Gelände brütende Hitze geben könnte. Bei den inzwischen auch tagsüber sehr aktiven Mückenschwärmen, konnte ich es mir nämlich nicht erlauben, kurzärmelig zu gehen... Leider gab es auch trüben Himmel, also keine Sonne, die beim Durchqueren der Taiga einen guten Richtungsweiser abgegeben hätte. Da der Wald aber sehr licht war, konnte ich zur Rechten stets einen kleinen Berg sehen, also nahm ich diesen als Orientierungshilfe.
Vor mir lag nun die Portage zur Ketanda, eine mit nur 20 km recht kurze und flache Landpassage, um in das Einzugsgebiet des Ochotskischen Meeres zu gelangen. Zum ersten Mal begangen wurde sie von einer sowjetischen Expedition, da man hier auf kürzestem Wege die kontinentale Wasserscheide queren kann. Seitdem folgen so gut wie alle Nachahmer dieser Route, obwohl sie durch schwieriges und teilweise versumpftes Gelände führt. Bis zum ersten See Podgornoe waren es laut Karte etwa vier Kilometer Luftline. Ich nahm mir vor, sie am Stück durchzulaufen, da es in der überall gleich aussehenden Lärchentaiga nahezu unmöglich wäre, die zwischenzeitlich abgestellten Rucksäcke wiederzufinden.
Am Anfang kam ich noch gut voran. Es gab ebenen Flechtengrund und ausreichend Platz zwischen dem dünnen Stangenholz. Bald kam jedoch mehr und mehr Gestrüpp hinzu, dann dichtere Waldabschnitte mit etlichen querliegenden Baumstämmen und später noch ein zwar trocken liegender, aber sehr buckeliger Sumpf, in dem man wiederholt durch halbmetertiefe Senken steigen musste. Es war ein scheußliches Gelände, mühselig zu gehen, auch ohne Gepäck kein Spaß...
Im dichten Wald verirrt
Nach etwa 3 km und anderthalb Stunden erreichte ich schließlich einen Bergrücken, der den Übergang zum See markiert. Hier fand ich eine dicht bewachsene Anhöhe, die einen gewissen Wiedererkennungscharakter hatte, und stellte meinen ersten Rucksack nun doch schon vorm See ab, um den zweiten möglichst rasch nachzuholen. Es war schon ein leicht mulmiges Gefühl, plötzlich ganz ohne Ausrüstung einige Kilometer durch diese abgelegene Wildnis zu stiefeln. Der eine Rucksack mit Klamotten, Fotoausrüstung und Schlafsack hinter mir, abgelegt in einem Gebüsch, der andere mit Boot, Zelt und dem Proviant noch vor mir am Fluss und ich dazwischen mit nur einer sowjetischen Generalstabskarte 1:200.000 bewaffnet.
Bald wurde mir aber noch mulmiger, als der kleine Berg, an dem ich mich bisher orientierte, aufgrund der plötzlich dichteren Taiga nicht mehr zu sehen war. Es reichten schon ein paar ausweichende Umgehungen umgestürzter oder querhängender Bäume und schon war ich mir nicht mehr sicher, wohin ich eigentlich lief. Leichtsinnigerweise hatte ich meinen Kompass im nachzuholenden Rucksack gelassen, da ich zu sehr darauf vertraute, mich allein mit der Karte durchschlagen zu können – ein dummer Fehler!
Zunächst lief ich weiter und weiter, da ich glaubte, noch grob in die richtige Richtung zu gehen. Mal hatte ich das Gefühl, etwas zu weit nach links abgekommen zu sein und korrigierte nach rechts. Dann glaubte ich, zu weit nach rechts gelaufen zu sein und änderte meinen Kurs wieder mehr nach links. Es war ein sinnloses Spielchen, denn ich hatte wirklich nichts, wonach ich mich richten konnte: keine Sonne, keinen Wind, keine erkennbare Wolkenbewegung, keine bemoosten Baumseiten...
Meine Schritte wurden immer schneller, schließlich sprang ich im Dauerlauf durchs Unterholz. Ich hoffte, rasch wieder in lichte Taiga zu gelangen, um mit Blick auf den kleinen Berg meine Orientierung zurückzugewinnen. Nach einer Weile tauchte dann tatsächlich eine Lichtung auf. Doch was dort vor mir lag, war nicht der gesuchte Berg, sondern genau jener Bergrücken, von dem ich gerade herkam. Ich brauchte eine Weile, um zu erkennen, dass ich ohne es zu merken im Kreis gelaufen war...
Also machte ich eine 180°-Wendung und lief wieder in den Wald hinein. Ich versuchte erneut meine Richtung beizubehalten, was natürlich zwecklos war. Ich brauchte definitiv etwas, woran ich mich jederzeit neu orientieren konnte. Als ich eine große abgestorbene Lärche entdeckte, kletterte ich kurzerhand hinauf und peilte mit Blick auf den kleinen Berg erneut meine Marschrichtung an. Dann stellte ich mich unter den Baum und beobachtete im Bereich der Spitze geduldig die Bewegung der wenigen Wolkenstrukturen. Nach ein paar Minuten war ich mir ziemlich sicher, dass es eine leichte Nordwestdrift gab, ich also rund 45° südlich zur Wolkenzugrichtung weitergehen musste. Die Wolkenpeilung habe ich dann alle paar hundert Meter wiederholt und meine Marschrichtung entsprechend angepasst.
Ich war sichtlich erleichtert, als ich endlich das Wasser der Judoma erblickte. Ich hatte sogar richtig Glück, denn ich war nur hundert Meter neben dem Startpunkt rausgekommen. Bei den vielen Kurswechseln unterwegs hätte es durchaus auch passieren können, dass ich die Flussbiege verfehle. Dann wäre ich erst einige Kilometer und Stunden später an den Fluss gelangt...
Diese Erfahrung war mir jedenfalls eine Lehre. Bei Märschen quer durchs Gelände sollte immer ein Kompass dabei sein! Ich schulterte den nachzuholenden Rucksack und peilte erneut die drei Kilometer zum Bergrücken an, auf dem der erste Rucksack schon seit anderthalb Stunden auf mich wartete. Diesen hätte ich dann beinahe nicht wiedergefunden, da es doch einige weitere ähnlich bewachsene Anhöhen gab, die ich alle nacheinander absuchte. Schließlich fand ich die richtige Stelle und entschied mich, auf dem letzten Kilometer zum See Podgornoe alles mit einem Mal zu tragen, um mir eine weitere Rucksacksucherei zu ersparen.
Über die Seen zum Bach
Unten am Seeufer angelangt, rollte ich wieder mein Schlauchboot aus, denn ich wollte so viel Strecke wie nur möglich paddelnd oder treidelnd zurücklegen. Eine herrliche Stille lag über dem See, als ich diesen am Abend noch querte. Dabei hatte ich auch provisorisch meine Angel ausgeworfen – und es hat erstmals was angebissen: ein kapitaler Hecht von fast 70 cm Länge! Auf der anderen Seeseite fand ich einen fantastischen Platz zum Übernachten und machte mich noch vorm Zeltaufbau an die Zubereitung des Fischfangs. Da es ein ziemlich großer Brocken war, zerlegte ich ihn nach dem Entschuppen und Ausnehmen in fünf große Teile, die ich sogleich mit Salz und Kräutern einrieb und in einem abgedeckelten Topf über Nacht liegen ließ. Nur den Kopf haute ich gleich mit in die Nudelsuppe. Nach dem anstrengenden Tag war ich so hungrig, dass ich den Schädel komplett auseinander nahm und alles aß, was weich war, auch die Augen... nichts, was in irgendeiner Form Energie liefern könnte, sollte sinnlos weggeworfen werden.
Am nächsten Morgen kochte ich mir noch eine Nudelsuppe mit dem Schwanz des Hechts, die übrigen drei Teile grillte ich mir überm Feuer – für unterwegs. Wurst und Knäckebrot hatte ich nur noch für eine Pausenmahlzeit, daher wurde es Zeit, dass ich endlich Angelerfolg hatte, um meine karge Proviantsituation etwas aufzupeppen. Gerade jetzt während dieser kraftraubenden Tage, brauchte ich viele Kalorien. Auf den Rippen hatte ich nämlich schon lange keine Reserven mehr...
Zum nächsten namenlosen See musste erneut eine kleine Anhöhe überwunden werden. Auf etwa einem Kilometer ging es bequem durch offene Lärchentaiga, auch mit ganzer Last auf dem Rücken war die Strecke leicht zu laufen. Das neue Seeufer präsentierte sich allerdings sehr sumpfig und ein Einstieg war nur mit Festhalten an einem querhängenden Baum möglich. Dafür dauerte die Überquerung nur eine halbe Stunde. Am anderen Ende gab es laut Karte einen kleinen Ausfluss. Falls er genug Wasser führen sollte, würde ich versuchen, mit dem Boot gleich weiter zu treideln.
Bachabwärts zur Ketanda
Tatsächlich traf ich dann am Ende des Sees auf einen freien Bachlauf, sogar Strömung gab es – Treideln war also möglich. Allerdings nicht lange... Nach einer Weile wurde das Gelände sumpfiger, die Durchgänge schmaler und die Wasserlöcher tiefer, so dass ich wiederholt auf den Grasbüscheln balancieren musste, um das Boot da durchzuzerren. Dann gab es wieder Abschnitte, auf denen ich halbwegs treideln konnte, teilweise sogar paddeln. Anschließend verlor sich der Wasserlauf erneut in einer versumpften Fläche mit schmalen Rinnsalen, in denen ich kaum noch vorwärts kam.
Irgendwann hatte ich die Nase voll und entschied mich, zu Fuß neben der buckeligen Bachaue weiterzugehen. Es sollten aber nur wenige hundert Metern werden, denn als ich wieder rauschendes Wasser vernahm, zog es mich sofort zurück zum Wasser. Wenn es Chancen gab, zu treideln, dann wollte ich keinen Meter weiter schleppen. Es dauerte jedoch nicht lange und der Bachlauf zweigte sich erneut in einen Sumpf auf. Ich stieg ein zweites Mal ans feste Ufer und ging zu Fuß über eine bewaldete Anhöhe. Das Boot zog ich dabei leer hinter mir her.
Als dann eine Senke mit einem kleinen See auftauchte, bin ich wieder hinunter zum Bach. Es folgte ein schmales bewaldetes Tal, in dem es einen guten Durchfluss auf steinigem Grund gab. Hier konnte ich wieder ganz gut treideln – zwar mit vielen Flachwasserpassagen und ständigem Steinkontakt, aber nur wenigen Hindernissen. Ich war guter Dinge, den Rest der Strecke am nun folgenden dritten Tag der Portage hinter mich zu bringen.
Der Unterlauf des Baches hatte es dann aber in sich: viele enge Mäanderschleifen, alle hundert Meter Baumblockaden, die umtragen werden mussten und anhaltendes Flachwasser, in dem ich das Boot wiederholt über steinigen Grund zerren musste. Es dauerte nicht lange und meine Kraftreserven waren am Ende. Ich fühlte mich erstmals so schwach, dass ich beim Umgehen oder Überklettern der quer liegenden Baumstämme mich kaum noch aufraffen konnte. Dabei wäre man zu Fuss neben der Aue deutlich schneller und einfacher vorwärts gekommen, aber ich hatte immerzu die Hoffnung, dass es mit dem Treideln besser werden würde. Zumal Clemens in seinem Bericht erwähnte, dass der Bach am Ende noch paddelbar werden würde.
Doch nichts dergleichen passierte – bis zur Mündung in die Ketanda gab es unverändert flaches Wasser, so dass kein vernünftiges Treideln mehr möglich war (wahrscheinlich wegen der schon länger anhaltenden Trockenheit). Auf etwa einem Kilometer ließ ich mich noch einmal hinreißen, neben dem Bach durch die Taiga zu laufen. Ich fand einen Bärenpfad, dem ich leicht folgen konnte, doch dann öffnete sich der Wald und ein breiter Sumpf tauchte auf. Also bin ich wieder zurück in den Bach und lief noch bis in die Nacht hinein, um keinen Tag länger in diesem Gelände verbringen zu müssen.
Gegen Mitternacht ereichte ich sie dann endlich: die Ketanda. Es war die reinste Erlösung, diesen Fluss nun vor sich zu haben. Auf dem ruhig dahin fließenden Wasser spiegelte sich mystisch der Mond – ein herrlicher Anblick. Am Rande einer Sandbank baute ich mein Zelt auf, kochte mir über Gas eine ordentliche Portion Rührei und Nudeln und fiel erschöpft in den Schlaf. Ganze zwölf Stunden hatte ich heute geackert, damit die Portage nicht mehr als drei Tage dauert. Ich konnte es kaum glauben, wie Clemens und Jakob diese Landpassage in nur zwei Tagen geschafft haben...
weiter zum Teil 6: Ketanda und Urak...
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