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Über den Suntar-Chajata zum Ochotskischen Meer...
Teil 6: Ketanda und Urak

Neuer Fluss mit Überraschungen

Die Ketanda war ein schöner Fluss: ruhig, verwinkelt und umgeben von hügeliger Taiga. Das erste Mal hatte ich glasklares Wasser unter mir – so klar, dass ich selbst an mehrere Meter tiefen Stellen bis zum Grund blicken konnte.
Gleich zu Beginn schlängelte sich der Flusslauf durch ein paar tief eingeschnittene Täler mit schroffen Felswänden. An den schattigen Ufern hingen noch Eisreste vom letzten Winter – beeindruckend, dass sie sich auch hier unten so lange halten können. Wenig später, als sich das Flussbett weitete, zeigten sich sogar noch großflächige Überbleibsel eines Naleds. Ein Durchkommen war hier aber, wie schon in den Eisflächen des Nitkans, problemlos möglich.
Da ich nun wieder schneller voran kam, rechnete ich damit, dass ich Ochotsk noch gerade so zum letzten angepeilten Rückflugtermin erreichen könnte, und legte mich entsprechend ins Zeug. Doch Eile hat in der menschenleeren Wildnis nichts zu suchen, denn Eile bedeutet Unachtsamkeit, die im Ernstfall lebensbedrohliche Konsequenzen haben kann. Ein paar kritische Situationen machten mir das irgendwann bewusst.
Die erste ereilte mich an einer unerwartet hohen Schwelle, die ich zwar durch ihr Rauschen rechtzeitig wahrnahm, aber nicht vorab vom Ufer aus inspizierte. Ich vertraute darauf, dass ich problemlos durchkommen würde, rutschte dann aber ausgerechnet von der steilsten, etwa 1 m hohen Kante in eine schöne Wasserwalze, die mich fast zum Kentern brachte. Mit einem Paddelstoß gegen die Felsen konnte ich mich aber noch rechtzeitig aus den rotierenden Wassermassen herausschieben...
Ein anderes Mal rauschte ich in einer engen Kurve auf ein paar umgestürzte Bäume zu. Ich entschied aus dem Boot heraus: das wird schon klappen. Doch beim Unterqueren des ersten Baumstammes konnte ich mich gar nicht so schnell abducken und blieb hängen, während das ganze Gerödel unter mir fast abgehauen wäre. Meine Beine klemmten noch zwischen Rucksack und Bootswand, so dass ich es mit ein paar umständlichen Verrenkungen schaffte, mich wieder hinein zu buchsieren und einen zweiten Baumstamm ohne weiteres Hängenbleiben zu unterqueren... In beiden Fällen hatte ich keinen Trockenanzug an und hätte, wenn es blöd gelaufen wäre, vollkommen durchnässt meinem abgetriebenen Boot hinterherlaufen müssen.

Äschen über Äschen

Als ich am ersten Abend ein herrlich bewaldetes Felsufer passierte, entschied ich mich kurzerhand anzulegen, um mein Nachtlager aufzuschlagen, denn so ein idyllischer Platz würde sicher kein zweites Mal auftauchen. Außerdem schnappten hier auffällig viele Fische an die Wasseroberfläche – eine perfekte Gelegenheit, trotz später Stunde, endlich wieder die Angel auszuwerfen. Es verging keine Minute und schon hatte etwas angebissen – eine wunderschöne Äsche mit farbig schimmernden Schuppen und gemusterten Flossen. Futter für die nächsten 24 Stunden! Ich sammelte Holz, entfachte ein Feuer und kochte mir wieder als erstes eine Nudelsuppe mit dem Kopf des Fisches. Den Rest grillte ich am nächsten Morgen für unterwegs. Es war ein schmackhafter Fisch, ein richtiger Leckerbissen, der mich sehr an Forelle erinnerte.
Während der folgenden Tage hielt ich immer wieder Ausschau nach Äschen. Aufmerksam verfolgte ich jede Bewegung im klaren Wasser. Sobald ich unter mir etwas umherflitzen sah, suchte ich nach einer günstigen Stelle zum Angeln und legte für eine Weile an. Anglerglück hatte ich aber nur noch einmal – als ich im Bereich eines Treibholzhaufens direkt über einem tiefen Pool andocken konnte. Ich hatte die Angel gerade erst ausgeworfen, da zerrte es schon an der Sehne. Beißfreudig waren die Äschen aber nur beim ersten Versuch, denn beim zweiten Auswerfen der Angel passierte nichts mehr. Offenbar wurden die Fische schnell misstrauisch, nachdem einer ihrer Artgenossen widerwillig an die Oberfläche gezogen wurde...
Gerne hätte ich mir mehr Zeit zum Angeln genommen, aber ich stand immerzu vor dem Zwiespalt: schnell sein, um mich noch mit dem verbliebenen Restproviant durchschlagen zu können – oder mehr Zeit lassen und dafür mehr Fisch zu fangen, um die Proviantsorgen endlich los zu werden... Ich entschied mich stets für ersteres.
Irgendwann kam ich an einer kleinen Jagdhütte vorbei. Sie war hell und sauber, offenbar erst vor kurzem erbaut. Die Tür war ausgehangen, man konnte geradewegs hineinstiefeln. An der Wand hingen lauter Habseligkeiten: Seile, Drähte, eine Pfanne, eine Blattsäge; in den Fugen steckten Löffel, eine Kelle, eine Feile... irgendwie hatte alles seinen Platz. Wahrscheinlich war es das Basislager eines Pelztierjägers, denn unter der Schlafbank lagen etliche Tellereisen.
Draußen vor der Hütte befand sich ein riesiger Haufen Feuerholz, wenige Meter entfernt hingen zwei Metalltonnen an Drahtseilen zwischen den Bäumen – ein Tonnen-Labas! Ob sich darin auch Lebensmittel befanden? Plündern wäre hier ziemlich aufwändig gewesen. Meine Proviantnot war noch nicht so arg, dass ich es versucht hätte. Schließlich haben auch die Jäger einiges auf sich genommen, um hier in dieser schwer zugänglichen Wildnis ein derartiges Lager einzurichten – ziemlich mies wäre es, sich ohne triftigen Grund an ihren Vorräten zu vergreifen.

Mit letzten Kräften

Bald aber wurde es zunehmend haarig auf der Ketanda. Immer wieder tauchten an den Kurven Treibholzansammlungen auf, die den Fluss auf ganzer Breite blockierten. Diese zu umgehen, war an sich kein Ding, doch wegen des allgemeinen Schwächegefühls, welches sich seit der kräftezehrenden Portage eingestellt hatte, kamen mir diese Holzblockaden vor, wie unüberwindbare Hindernisse. Im Boot sitzen und paddeln war nicht schwer, doch aufstehen und laufen erforderte selbst ohne Gepäck eine Menge Überwindung – jede unnütze Bewegung wollte vermieden werden.
Leider folgte auch in den nächsten Tagen eine Holzbarrikade nach der anderen. Zudem begann sich der Flusslauf auf eine wirre, nur schwer nachvollziehbare Weise aufzuzweigen. So war manches Mal nicht mehr klar, welches der Hauptlauf ist und wo dieser enden würde. Ein angeschwemmter Holzhaufen hatte diesen zum Beispiel mal direkt in einen Auwald umgeleitet, wo er nach einem halben Kilometer endete und in undurchdringlicher Taiga versickerte. Glücklicherweise war hier die Strömung nicht so stark, so dass es mir möglich war, zur Aufzweigung zurück zu paddeln. Der alte Hauptlauf, erkennbar am breiteren Bett mit frei liegenden Schotterbänken, führte dagegen so wenig Wasser, dass ich einige Zeit flussabwärts treideln musste – bis sich die Wasserläufe allmählich wieder vereinten.
Ein gewisses Unbehagen machte sich breit in mir, bestand doch permanent die Möglichkeit, in eine Sackgasse zu geraten, aus der ich nur mit größter Anstrengung wieder herauskommen würde. Mir wurde klar: hier geht es nicht mehr um das Einhalten eines abgesprochenen Rückkehrtermins, sondern vielmehr darum, überhaupt einen Weg aus dieser Wildnis zu finden – und unversehrt ans Ziel zu gelangen...

Bärenattacke

Eines Abends – es dämmerte schon – trieb ich auf einem schmalen Nebenarm der Ketanda durch düsteren Auwald, als ich rechts neben mir plötzlich ein Knacken im Dickicht vernahm. Noch bevor ich realisierte, was los war, preschte schon ein Bär direkt auf mich zu, entschlossen, mich aus dem Wasser zu holen. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis er das nur drei Meter von mir entfernte Ufer erreichte. Dort hielt er kurz inne, sprang wild umher und richtete sich immer wieder auf – Sabber triefte aus seinem aufgerissenen Maul... der war definitiv hungrig! Da ich im Boot saß und den Fluss hinuntertrieb, konnte ich nicht aufstehen. Aus dem Boot ins knietiefe Wasser steigen, hätte mich auch nicht größer gemacht, also riss ich intuitiv mein Paddel hoch und brüllte den Bären an, so laut es ging. Das hat ihn dann tatsächlich verunsichert und er ist nicht ins Wasser gekommen. Ein paar Mal hatte er noch angesetzt, da ich mich langsam flussabwärts treibend von ihm entfernte, aber weiteres Gebrüll mit drohenden Paddelbewegungen haben ihn dann doch zur Umkehr gebracht.
Das Ganze dauerte vielleicht nur Sekunden, gefühlt waren es aber Minuten und bis heute erinnere ich mich nur noch an mein eigenes Gebrüll und an den einen Gedanken, den ich hatte: dass ich aus dem Boot steigen und ihm entgegen gehen würde, sobald er einen Fuß ins Wasser setzt... Das war wirklich knapp, eine sehr grenzwertige Situation!
Der Bär hatte sich schon an den Waldrand zurückgezogen, als er sich noch ein letztes Mal umdrehte und ich ihn ein letztes Mal anbrüllte, dann verdrückte er sich endlich. Damit war die Sache aber noch nicht vorbei... Vor mir lag ein umgestürzter Baum im Wasser, den ich schon längst hätte umpaddeln müssen, doch das hätte auf den Bären möglicherweise wie Flucht gewirkt. Also trieb ich nun direkt hinein, zum Glück erst, als der Bär schon weg war. Da sich die Strömung des Flusses in Grenzen hielt, konnte ich mich noch gerade so aus dem Geäst befreien. Ich trieb weiter stromab – mit angespitzten Ohren und wachsamen Blick. Da hörte ich es neben mir im Auwald erneut knacken, ja regelrecht krachen. Offenbar preschte der Bär jetzt parallel zu mir durchs Unterholz – und zwar schneller, als ich auf dem Wasser vorankam, denn auf einmal sprang er vor mir in den Fluss...
Will er mich jetzt etwa im Wasser abfangen? Ich blieb still und hoffte, dass es nicht dazu kommen würde. Tatsächlich, der Bär hielt nicht an, er rannte wie angestochen weiter quer durch den Fluss ans andere Ufer, ohne mich dabei zu bemerken. Das letzte Stück schwamm er, dann erklomm er hastig den steilen Prallhang und verschwand, wie er aufgetaucht war. Anscheinend hatte ich ihn derart verunsichert, dass er sich letztendlich zur Flucht entschied.
Obwohl es schon ziemlich schummrig war, paddelte ich weiter und weiter. Ich wollte unbedingt raus aus dem Auwald, an irgendein festes Ufer. Doch dann tauchte an einem engen Mäander eine riesige Holzbarrikade auf, die sich über die ganze Flussbiege verteilte. Eine Umgehung im Flussbett hätte ewig gedauert, also ging ich mit dem Boot ein Stück zurück, steuerte den verklausteten Prallhang an und verkeilte mein Boot zwischen den Baumstämmen, um alles auf kürzestem Wege durch den Auwald zu bringen. Ein bisschen klettern musste ich, auch im Wald, der voll von Gebüschen und Totholz war. Dabei knackte es nun unter meinen Füßen – ein beklemmendes Gefühl, kam es mir doch so vor, als könne mich die ganze Taiga hören...
Der Gedanke, dass mir jederzeit wieder ein hungriger Bär über den Weg laufen könnte, ließ mich auch in den kommenden Tagen nicht mehr los. Sobald ich irgendwo ein Knacken im Wald vernahm, zuckte ich unweigerlich zusammen. Bären habe ich dann tatsächlich noch einige gesehen. Ihr Auftreten war aber ganz anders, als bei den ersten vier, sehr offensiven Begegnungen. Entweder trotteten sie unbeeindruckt ihres Weges oder sie erschraken und nahmen sofort reißaus. Sogar eine Bärenmutter und ihr Junges rannten sofort weg, als ich sie im Vorbeifahren am Ufer überraschte.
Nur einmal noch gab es eine kritische Situation, als ich am Unterlauf der Ketanda fast in einen Bären hineingetrieben bin. Der tauchte ganz plötzlich hinter einem Treibholzhaufen auf und watete nur 10 m vor mir durch genau den Flussarm, welchen ich an einer Aufzweigung gerade einschlug. Ich paddelte eine ganze Weile so ruhig es ging rückwärts, bis der Bär am anderen Ufer war. Erst dann bemerkte er mich, ergriff in diesem Moment aber auch nur die Flucht...

Endlich Urak

Nach vier Tagen auf der Ketanda erreichte ich endlich die Mündung in den Urak. Dieser Moment war wie ein Befreiungsschlag, denn bis zum Schluss gab es wiederholt den ganzen Fluss blockierende Treibholzhaufen. Ein vorangegangenes Hochwasser hatte zudem etliche noch grünende Bäume umgelegt, die teilweise von einem zum anderen Ufer reichten. Jetzt öffnete sich die Landschaft, der Fluss wurde breiter und die Hindernisse verschwanden. Möwen kreisten wieder am Himmel und ein Geruch von Meer lag in der Luft (offenbar kam er von den angetrockneten Algen auf dem frei liegenden Schotterbett) – das Finale schien in greifbare Nähe zu rücken.
Im Bereich einer kleinen Bergkette gab es aber noch einen Durchbruch mit Stromschnellen der Wildwasser-Klasse III bis IV zu überwinden. Das erste Mal seit dem Nitkan zog ich wieder meinen Trockenanzug über und inspizierte aufmerksam den Lauf des schäumenden Wassers. Ich versuchte mir in Gedanken vorzustellen, wo mich die Strömung hinziehen würde und an welchen Stellen ich den hohen Wellen ausweichen müsste, um ein Kentern zu vermeiden. Dann stieg ich ins Wasser und folgte der erdachten Linie.
Aus der Bootsperspektive sah natürlich alles anders aus, als eben noch vom Ufer betrachtet – hüpfende und schäumende Wellen ohne jeglichen Hinweis, was dahinter folgt. Doch ich erinnerte mich noch genau, welchen Weg ich zu nehmen hatte. Zunächst umging ich rechts eine Walze, dann korrigierte ich meinen Kurs rasch nach links, um nicht von einer seitlichen Welle umgeschmissen zu werden und der Rest war nur noch ein Durchbrechen kleinerer Wellen. Es gelang! Ich kam souverän durch ohne zu kentern. Nur die Kopfkamera hatte versagt – auf den schwachen GoPro-Akku ist leider kein Verlass...

Jägerbasis Utunur

An einem großen Felsblock mitten im Fluss legte ich eine längere Pause ein, ruhte mich aus, versuchte zu angeln – leider erfolglos... Der bisher stets aus Süden wehende Wind hatte in der vergangenen Nacht auf Ost gedreht und stark aufgefrischt, so dass auf den ruhigen Bereichen des Flusses kaum noch ein Vorankommen möglich war. Gegen den Wind anzupaddeln wäre eine sinnlose Kraftverschwendung. Mein Proviant war inzwischen aufgebraucht, ich hatte mir lediglich einen kleinen Rest Hafer und eine Hand voll Nudeln aufgespart, um den nächsten und hoffentlich letzten Tag auf dem Urak nicht mit komplett leeren Magen starten zu müssen.
Bis zur Küste des Ochotskischen Meeres waren es noch etwa 60 km. Auf meiner Karte waren bereits ein paar versprengte Sommer- oder Jagdhütten verzeichnet, aber wie groß wäre wohl die Chance, dort jemanden anzutreffen? Als ich mich der ersten Hütte mit dem Namen Utunur näherte, erspähte ich auf einer fernen Schotterbank zwei schwarze Punkte. Wie so oft, konnte ich im ersten Moment nicht richtig einschätzen, ob es sich um lebende oder tote Objekte handelte... Sind es Bären? Elche? Oder doch wieder nur Felsblöcke oder angeschwemmte Baumstümpfe? Nein, es waren lebende Objekte – sie bewegten sich! Sind es vielleicht sogar Menschen? Je weiter ich mich näherte, desto klarer wurde das Bild – ja, es waren Menschen! Die ersten seit der Rentierzüchterbasis am Suntar.
Ich sah, wie sie in ein Schlauchboot stiegen und den Fluss ans linke Ufer querten. Sie schienen sich zu beeilen. Ich setzte mit ein paar Paddelschlägen nach und legte kurz hinter ihnen am Ufer an. Es waren drei Männer, die sich ohne Umschweife zu ihrer Hütte im Wald begaben. Hatten sie mich nicht gesehen oder wollten sie mir aus dem Weg gehen? „Zdorova“ rief ich – „wie weit ist es noch zum Meer?“ Ich verstand nicht, was sie antworteten, die Handbewegung war aber eindeutig – sie wollten in Ruhe gelassen werden... Ich ging trotzdem weiter auf sie zu. Eine derartige Unhöflichkeit, dazu noch hier draußen, war mir einfach zu fremd, als dass ich sie ernst nehmen konnte. „Mnje inostranny – ich bin Ausländer. Mein Russisch ist schlecht, ich verstehe nur wenig.“ erwiderte ich und schien auf einmal das Interesse der drei Gestalten geweckt zu haben – „Komm mit, dort hinten ist unsere Hütte.“
Plötzlich war ich ihr Gast und saß mit ihnen an einem hölzernen Tisch unter freiem Himmel. Es gab zwei einfache Blockhütten, einen Unterstand, einen böllernden Ofen und jede Menge Gerätschaften, die verstreut herumlagen. Ein typisches Waldlager, in dem sich das Leben draußen abspielt. Eine junge Frau empfing uns und tischte sogleich etwas Essen auf. Es gab deftigen Borschtsch mit frischem, noch knusprigem Brot, das eine süßliche pfannkuchenartige Note hatte. Dazu ein Pott Kaffee mit Zucker... Es war ein Fest für die Sinne!!
Ich glaube, den Leuten war gar nicht bewusst, was für ein Geschenk sie mir da machten. Sie hatten mich nicht nur davor bewahrt, den letzten Tag hungernd zu verbringen, sie zeigten mir auch, was Gastfreundschaft hier draußen für eine Bedeutung haben kann. Ich bedankte mich mehrmals und lobte das gute Essen. Einen Nachschlag lehnte ich zunächst ab, ließ mich dann aber kein drittes Mal fragen, denn ich spürte, wie langsam die Kräfte zurückkehrten. Die Zeit des Schwächelns hatte nun endlich ein Ende.
Wir sprachen über das Leben, über den Tourismus in dieser Gegend und über meine Route. Sergej, der kräftigste von den drei Männern, war Jäger. Das ganze Jahr über lebt er hier mit seiner Frau Lena und dem dreijährigen Sohn Danja. Die beiden anderen, Vova und Evgeni, halfen ihm beim Bau einer neuen, größeren Hütte. Von den Dörfern an der Küste führt ein Fahrweg hierher, so dass sie ihre Baumaterialien mit einem Lastwagen heranholen konnten. Lena fragte mich nach einem Kompass, offenbar besaß selbst ihr Mann, der immer wieder als Jäger durch die Taiga streift, keinen. Ich schenkte ihnen meinen und erklärte kurz die Anwendung. Auf dem letzten Abschnitt zum Meer würde ich ihn sowieso nicht mehr brauchen. Dann holte ich meine Ausrüstung und das Boot hoch und baute im Dunkeln mein Zelt am Rande der Jagdbasis auf. Regenwolken zogen heran, es wurde eine nasse Nacht.

Finale am Ochotskischen Meer

Am nächsten Tag wollte es nicht mehr aufhören zu regnen. Ich lag im Zelt bis sich drüben etwas bewegte. Irgendwann wurde Holz gehackt und der Ofen angeschmissen. Dann dauerte es nicht lange und man rief mich ins Haus der Jägerfamilie. Lena rührte Teig für neues Brot an, wie bei den Ewenen wurde es in einer Pfanne mit Öl gebacken. In diesem Fall auch mit etwas Milchpulver und Zucker, daher die Pfannkuchennote. Dann wurde roter Fisch paniert – Kita. Er schmeckte vorzüglich. Von beidem bekam ich etwas mit auf den Weg – ich war überglücklich... Als der Regen gegen Mittag nachließ, brach ich endlich auf.
Bei grauem Nieselwetter trieb ich die letzten 45 km des Urak hinab. Die Strömung war durchweg flott, so dass ich noch am selben Abend das Ziel der Tour erreichte. Zweimal sah ich noch Bären am Ufer, die sich lehrbuchmäßig verdrückten. Dann traf ich in der Nähe der ersten Siedlung auf zwei Fischerjungen in einem Ruder-Schlauchboot – reservierte, wortkarge Gesellen, die nicht mal meine Begrüßung erwiderten. Ein Ural wartete im Flussbett, nahm die beiden auf und vorbei war die zweite Menschenbegegnung.
Etwa einen Kilometer vor der Mündung ins Ochotskische Meer vernahm ich schließlich das erste Wellengedonner. Ein dumpfes rhythmisches Geräusch, das mich eine brachiale Brandung vorstellen ließ. Etliche Reusen waren hier ausgelegt, an manchen lagen riesige verendete Fische am Flussgrund: silberne, anderthalb Meter lange Prachtexemplare! Gerne hätte ich hier noch einmal mein Angelglück probiert, doch die Zeit war zu knapp, ich wollte noch vor Einbruch der Nacht den Strandwall erreichen.
Die Taiga, inzwischen von Laubgehölzen und Farnen dominiert, zog sich immer weiter zurück. Irgendwann umgaben mich nur noch graubraune Kiesflächen, auf denen verrostete Schiffswracks lagen. Dann erreichte ich den Strandsee, welcher aber längst nicht die Ausmaße hatte, wie auf der Karte verzeichnet. Der Urak zeigte sich hier immer noch als Fluss mit spürbarer Strömung, die mich allmählich der Mündung entgegen zog. Aus der Ferne sah ich bereits die Lücke im Strandwall – dort musste das offene Meer sein!
Ich war so sehr damit beschäftigt, diesen Übergang irgendwie auf Film und Foto zu bannen, dass ich gar nicht bemerkte, wie schnell mich das Wasser auf einmal hinaustrieb. Ich sah schon die Wellen des offenen Meeres auf mich zurollen, als ich realisierte, dass es gerade Ebbe gab, die dabei war, mich auf die See hinauszuziehen... Leicht panisch schmiss ich die Kamera ins Boot, griff nach dem Paddel und rotierte hastig in Richtung Strand. Die heranrollenden Wellenbrecher warfen mich fast um, da machte ich einen Satz ins Wasser und zog das Boot rasch an Land, ehe das zurückströmende Wasser es wieder hinaus ziehen würde. Glück gehabt! Wäre ich gekentert, hätte ich die Kamera mit allen Bildern seit der Befahrung der Ketanda verloren...
Nun hatte ich aber wieder festen Boden unter den Füßen und alles war in Sicherheit. Ich genoss den Blick über die unendliche Wasserfläche und ließ mich betören vom Rauschen der Wellen. Das Ochotskische Meer war ein überwältigendes Finale, ein kontrastvolles Ende einer langen und beschwerlichen Wildnistour – vom hochkontinentalen Sibirien bis ans offene Meer. Etwa 37, maximal 39 Tage waren für die Wildnisstrecke geplant, 41 sind es am Ende geworden. Eine Hochzeit, bei der ich als Trauzeuge geplant war, musste ich absagen; auch meinen Arbeitgeber musste ich vertrösten, da ich es nicht mehr rechtzeitig zu meinem Dienstbeginn schaffen würde. Immerhin gab es hier erstmals seit Jutschjugej wieder Mobilfunknetz, so konnte ich gleich alles klären...

weiter zum Teil 7: Rückreise...

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