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Über den Suntar-Chajata zum Ochotskischen Meer...
Teil 1: Anreise

Vorwort

Eigentlich wollte ich im Sommer 2015 mit einem Kumpel nach Kamtschatka: eine einfache Tour mit dem Rad, kein großes Geplane, maximal ein Monat, ein klassisches Touristvisum hätte gereicht. Doch dann bekam ich einige Wochen vor dem geplanten Start eine Absage und fing an, auch meine Motivation zu hinterfragen. Im Jahr zuvor war ich zwei Monate in Südsibirien unterwegs, davon zwei Wochen mit einem Packraft auf den wilden Flüssen des Sajangebirges. Seitdem war ich richtig angefixt vom Wildnisrafting und wollte diese Form des Reisens in einem abgelegenen Teil Sibiriens unbedingt vertiefen. Inspiriert hatten mich vor allem die Touren von Robert Bellmann, einem deutschen Russland-Rafter, der mit seinen russischen Freunden schon etliche Flüsse Sibiriens mit einem Schlauchboot befahren hatte. Da er generell auch nach Gleichgesinnten im deutschsprachigen Raum suchte, standen wir schon seit einiger Zeit im Kontakt und entschieden uns nun zu einer ersten gemeinsamen Tour.
Unser Zeitfenster war der Juni – der einzige Monat, in dem ich mir für mehrere Wochen frei nehmen konnte. Robert war flexibel und passte sich meinem Zeitrahmen an. Zunächst waren wir auf eine Flussfahrt im Süden Sibiriens aus: Kazyr, Kalar und Olekma standen in der engeren Auswahl. Doch irgendwie reizte mich vor allem eine Tour zum Ochotskischen Meer – eine, wie die Österreicher Clemens Ratschan und Jakob Schabasser im Herbst 2013 unternahmen – und so kam auch Jakutien ins Gedankenspiel. Allerdings war der Juni nicht gerade die beste Jahreszeit für eine Wassertour in dieser kalten Klimazone, zumal die erste Teilstrecke flussaufwärts treidelnd, also zu Fuß gegen die Strömung zurückgelegt werden sollte – Hochwasser, Eisgang und auch Tiefschnee beim Passgang könnten uns vor ernsthafte Schwierigkeiten stellen. Tatsächlich meinten auch ein paar erfahrene Leute, u.a. der russische Geologe Sergej Ermakov alias Strannic (der schon dreimal mit seinem Schlauchboot in der Gegend unterwegs war), dass die Chancen, um diese Zeit dort durchzukommen, nur gering seien... Letztlich überwog aber unsere Zuversicht und so versuchte ich mein Zeitfenster noch etwas zu vergrößern: von Ende Mai bis auf den 10. Juli – mit fünf bis sechs Wochen Reisezeit hätten wir dann noch einen gewissen Zeitpuffer.
Natürlich zogen wir auch in Betracht, dass es nicht klappt und wir umdrehen müssen, denn der sibirische Winter hatte auch Mitte Mai noch die gesamte Reiseregion fest im Griff. Das NASA-Satbild vom 17.5. zeigte eindrucksvoll, dass der gebirgige Osten Jakutiens noch unter einer dicken Schneedecke lag und Flüsse, wie der Suntar, den wir hinauftreideln wollten, noch komplett vereist waren... Also versuchten wir über lokale Kontakte einen Pferde- oder Rentiertrek zu organisieren, um den ersten Streckenabschnitt mit Unterstützung zurücklegen zu können. Allerdings waren die potentiellen Kandidaten dafür – die mit den Rentieren halbnomadisch lebenden Ewenen – zu dieser Zeit sehr beschäftigt, weil die Rentiere gerade ihre Jungen gebären würden. Immerhin war Robert nahe dran, einen Pferdeführer aus Jutschjugej für unser Vorhaben zu gewinnen, doch bis zur Abreise kam leider kein direkter Kontakt mehr zustande.
Für den Fall, dass wir am Ende ohne Pferde dastehen und das Treideln zu schwierig oder unmöglich werden sollte, hatten wir uns noch ein paar Alternativtouren ausgearbeitet. Eine dieser Alternativen war, bei Umkehr einfach den Suntar und die Indigirka hinabzufahren. Eine andere war: zurück nach Jakutsk und von dort einen Transport nach Udatschnyj im Nordwesten Jakutiens organisieren, um den Alakit und Olenok zu befahren. Oder: wenn die verbliebene Zeit schon zu knapp sein sollte, einfach den nahe Jakutsk gelegenen Sinjaja runter zur Lena zu paddeln. Für alle vier Varianten hatten wir uns entsprechende Karten vorbereitet. Die Tour vom Suntar über das Suntar-Chajata-Gebirge zur Judoma und nach einer Portage über die Ketanda und den Urak zum Ochotskischen Meer blieb aber unser Plan A. Falls dieser von vornherein aussichtslos sein sollte, wäre der Alakit und Olenok unser Plan B.
Schließlich stellte sich noch die Frage, was für Boote wir mitnehmen. Das 25 kg-Schlauchboot von Robert (ein russisches „Raftmaster“, welches er auf seinen bisherigen Touren einsetzte), kam nur für Flüsse infrage, die sich ohne Fußmarsch erreichen lassen. Da wir aber vor allem bei Plan A auch mit längeren Marschetappen rechnen mussten, sollten unsere Boote unbedingt tragbar sein. Ich war bereits im Besitz eines Packrafts („Alpacka Explorer 42“, 3 kg, tauglich bis WW III), das für so eine Tour bestens geeignet schien. Robert hingegen musste sich noch ein leichtes Zweitboot zulegen und entschied sich kurz vor Abreise für ein litauisches Quasi-Packraft („Drakar Meridian“, 7 kg, tauglich für WW >III). Der Unterschied zu meinem Packraft bestand vor allem darin, dass es zwei Luftkammern und damit auch eine höhere Steifigkeit besaß. Wie sich beide Boote beim Treideln geschlagen haben, später mehr... Auf jeden Fall kamen sie mit ins Fluggepäck.

Flug und Ankunft in Jakutsk

Am 26. Mai ging unser Flug nach Jakutsk. Nach einem Umstieg in Moskau flogen wir direkt über das nördliche Sibirien der aufgehenden Sonne entgegen. Mit einem Schlag zeigten sich unter uns tief verschneite Landschaften – vor allem nördlich des Polarkreises war der Winter noch längst nicht vorüber, und das Ende Mai! Ich versuchte die Flugroute nachzuvollziehen und schaute gebannt auf die wechselnden Landstriche. Zuerst zeigte sich der Polar Ural mit seinen verschneiten Gipfeln, dann die kahle Jamal-Tundra mit tausenden, teils noch vereisten Seen und irgendwann der breite Jenissei, auf dem riesige Eisschollen trieben... Wenig später folgten dann die qualmenden Schlote der nördlichsten Großstadt der Welt: Norilsk. Das Putorana-Plateau lag leider unter Wolken, erst dahinter zeigte sich wieder eine seichte Berglandschaft mit auffälligen Riffelungen, als hätte jemand die Höhenlinien nachgezeichnet. Dazwischen zeigte sich ein größerer Flusslauf – grob geschätzt die Mündung des Alakit in den Olenok, welchen wir als Plan B im Hinterkopf hatten, hier schon fast eisfrei. Kurz darauf folgte noch eine riesige Diamantengrube – alles kar: Udatschnyj. Dann musste das vorhin tatsächlich der Alakit gewesen sein...
In Jakutsk quartierten wir uns in einem zuvor gebuchten „Mini-Hotel“ ein, dass in Wahrheit eine Art Wohngemeinschaft mit permanent wechselnden Mietern war, und versuchten uns zunächst vom Jetlag zu erholen, denn der Zeitunterschied zu Deutschland beträgt immerhin acht Stunden. Ansonsten war unsere erste Amtshandlung, den schon teilweise mitgebrachten Proviant aufzustocken, dass er für mindestens fünf Wochen reichen möge – rund 46 kg hatten wir am Ende zusammen. Hinzu kamen noch zwei große Kochtöpfe mit Henkel (5 bzw. 2,5 Liter), da wir generell über Feuer kochen wollten, aber auch zwei Gaskartuschen, um bei der Passquerung und den Bergbesteigungen oberhalb der Baumgrenze ebenfalls warmes Essen zubereiten zu können. Mit Unterstützung von Michail Mestnikov, dem Chef der ortsansässigen Tourfirma Nordstream, fanden wir in den zahlreichen Jagd- und Angelläden noch Rauchfackeln zur Bärenabwehr („Falschfejer“) und für mich ein Paar robuste Watstiefel zum Treideln. Und da Michail viel Erfahrung mit Raftingtouren in Jakutien hat, bekamen wir auch noch ein paar Tipps und Kontakte für unsere Alternativtouren.
Nebenher versuchten wir schon eine Mitfahrgelegenheit ausfindig zu machen, obwohl wir uns noch immer nicht im Klaren waren, ob wir Plan A oder B angehen sollten – Suntar-Chajata oder Alakit-Olenok... Über Michail und ein paar Bekannte vor Ort erhielten wir nämlich die Info, dass das Eis der Indigirka gerade erst aufgebrochen sei und eine zweite Welle vom Oberlauf folgen würde, der Suntar musste also tatsächlich noch zugefroren sein. Falls wir uns zum Suntar bringen lassen und dann feststellen, dass kein Treideln möglich ist, bliebe nur noch die Alternative Indigirka, die aber schon bei normalem Wasserstand ein paar gefährliche Abschnitte mit hohen Wellen und felsigen Ufern hat – Helme und Roberts größeres Boot (das 25 kg schwere „Raftmaster“, das bei der Tourfirma „Nordstream“ lagerte) wären nötig, was wir entweder aus Jakutsk nachholen oder uns bringen lassen müssten. Auf den Pferdeführer aus Jutschjugej konnten wir jedenfalls nicht mehr zählen – der hatte sich noch immer nicht zurückgemeldet, offenbar war er irgendwo in den Bergen unterwegs...
Also was? Vielleicht doch gleich Plan B? Der Alakit war aber auch nicht einfach zu erreichen... Ein Kettengerät oder mindestens ein Geländefahrzeug wäre erforderlich, um von der Trasse nach Udatschnyj direkt zum Fluss zu gelangen. Wir hatten nur ein zweifelhaftes Angebot, das wir nach einem horrenden Preisvorschlag (50.000 Rubel bzw. mehr als 900 Euro) inklusive Spionagevorwurf dankend abgelehnt haben. Mit Plan B standen wir also auch nicht auf der sicheren Seite, daher entschieden wir uns endgültig für Plan A und buchten einen UAZ nach Jutschjugej. Nach vier Tagen in Jakutsk ging es dann am Abend des 30. Mai endlich los – nach Osten, dem Suntar-Chajata entgegen.

Aufbruch nach Osten

Wie hierzulande üblich, bretterte unser Fahrer die rund 800 km nach Jutschjugej innerhalb 24 Stunden. Lediglich zwei Stunden Schlaf gönnte er sich, als wir auf die Fähre über den Aldan warteten. Vor acht Jahren bin ich die Strecke schon einmal mit dem Fahrrad gefahren und schaute interessiert aus dem Fenster. Was mir sofort auffiel: die Trasse wurde ausgebaut, selbst die Brücke über den Kjubeme, die nach einem Hochwasser in den 70ern jahrzehntelang zerstört dalag, wurde nun tatsächlich mal erneuert. Der abenteuerliche Charakter dieser Strecke ist dadurch ein wenig verloren gegangen, aber diesmal sollte ja das Abenteuer erst abseits der Trasse beginnen.
Am Anfang fuhren wir durch die schon angegrünte Lärchentaiga der Jakutischen Ebene, in den Bergen wechselten wir dann aber rasch vom Frühling zurück in den Spätwinter. Taiga und Tundra zeigten sich fortan in einem graubraunen Gewand und auf den Seen und Flüssen gab es noch einiges an Eis, was uns nicht sehr zuversichtlich stimmte. Umso überraschter waren wir, als wir an der Brücke über den Suntar einen nahezu eisfreien Fluss mit moderatem Wasserstand vorfanden. Sollte Treideln etwa doch möglich sein?
Wir fuhren erst einmal weiter bis Jutschjugej und wollten den bisher unerreichten Pferdeführer finden – sicher ist sicher. Unterwegs trafen wir dann zufällig ein paar Ewenen, die gerade auf der Suche nach ihren Pferden waren, um später mit diesen den Agajakan hochzugehen, zwei andere eventuell auch den Suntar, aber wann das sein würde und ob sie uns mitnehmen könnten, blieb unklar. Leider bekamen wir auch in Jutschjugej keine klare Info, denn unser Kontaktmann war immer noch nicht zurückgekehrt... Also ließen wir uns mit dem nächstbesten Lastwagen wieder zurück zum Suntar bringen. Wir dachten uns: besser gleich mit der Tour beginnen, als vielleicht noch tagelang warten und am Ende doch ohne Pferdeführer dazustehen...
Der Fahrer unseres UAZ war übrigens zufällig einer von denen, die im Herbst 2013 den Pferdetrek von Clemens und Jakob anführten. Er kannte die Strecke daher gut und gab uns gleich ein paar Tipps, zum Beispiel dass der Pfad entlang des Suntar immer am rechten Ufer entlang führt und dass es hinter dem Zufluss des Koltako ein ganzjährig bewohntes Lager der ewenischen Rentierzüchter gibt, wo man eventuell noch ein paar Pferde oder Rentiere für das letzte Stück zum Pass auftreiben könnte. Bis dahin sollten wir es also auch unter widrigen Bedingungen versuchen.
Gegen Mitternacht ließen wir uns schließlich auf einer Anhöhe unweit des Suntar absetzen und trugen unsere schweren Rucksäcke in die kahle, düstere Lärchentaiga. Am dämmernden Nachthimmel stand der Vollmond und beleuchtete eine stille kalte Landschaft, das Thermometer zeigte vier Grad unter null... In den kommenden sechs Wochen sollten wir nur noch einmal Menschen treffen – in dem besagten Ewenen-Lager.

weiter zum Teil 2: Den Suntar aufwärts...

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