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Nordrussland im Winter 2010
Artikel aus der russischen Zeitschrift "Avtorevju"


Er wird das Fahrrad lange treiben...
Konstantin Sorokin

      Als ich auf der Winterstraße einen Radfahrer sah, dachte ich, es wäre eine Halluzination („Glück“- russisches Kosewort für eine Halluzination). Ich bin nicht sofort stehen geblieben. Dunkelheit, Kälte, Wind. Die Leute im Auto kriegen runde Augen und greifen nach ihren Kameras, der Radfahrer steht ganz durchgefroren da und strahlt vor Glück – tatsächlich „Glück“! Ich erinnere mich an mein längst vergessenes Deutsch und versuche die Situation aufzuklären:
      – Hör mal, hast Du Dich verfahren? Das ist der „Nenetskij“ Bezirk und nicht „Nemetskij“, verstehst Du?
      Es scheint ihm gut zu gehen. Das Gesicht ist nicht abgefroren, das Benehmen adäquat. Das Fahrrad ist ganz einfach – nicht von der teuren Sorte. Aber die Reifen sind gut und das Gepäck ist professionell angebracht: über dem Hinterrad sind zwei Gepäcktaschen befestigt, die längliche flache Reisetasche ist sicher angebracht, die Isomatte ist vorn gewickelt und der Lenker ist mit einer Mufte aus Fell bedeckt, die nicht nur zum Aufbewahren von Kleinigkeiten, sondern auch als Windschutz für die Hände dient. Der Kerl hat Verstand. Obwohl... Draußen ist es unter -20 Grad und wenn man dem Barometer vertrauen soll, dann wird es noch kälter werden.
      Wir bieten unsere Hilfe an und stecken ihm die Visitenkarten mit unseren schnell erreichbaren Telefonnummern zu, wir nehmen von ihm das Wort, dass er sich mit uns in Verbindung setzen wird, wenn irgendwas ist. Wir verabschieden uns, springen in unsere Autos, stellen die Heizung auf maximale Temperatur und nehmen etwas benommen den Kurs Richtung Norden auf.
      – Kostjan! Warum hast Du ihn nicht gefragt, wo er schläft, was er isst, wie er sich mit den Heimischen unterhält? Das ist doch so ein schmackhaftes Thema!
      Nach der anfänglichen Überraschung kommt nun wieder der Hauptredakteur in mir zum Vorschein. Ja, es sind viele Sachen, die ich ihn nicht gefragt habe! Weil ich so gefroren habe wie ein Hund und meine Ohren sind mir fast abgefallen. Gut, dass ich wenigstens die Idee hatte, dem Deutschen das Mikrofon unter die Nase zu halten. Macht nichts, denke ich, bald sind wir in Narjan-Mar und die lokalen Medien haben bestimmt aus diesem „Yeti“ schon alles „herausgekitzelt“!
      Es stellte sich jedoch heraus, dass die lokalen Fernsehleute nichts über den Besuch von Richard Löwenherz wussten. Die Zeitungs- und Radiojournalisten – auch nicht. Als wir auf dem Rückweg und diesmal bei Tageslicht, den „erfrorenen“ Richard eingeholt hatten (in drei Tagen hat er etwas über 50 km zurückgelegt), entschieden wir uns, unser Recht auf das exklusive Interview auszunutzen.
      Der Kerl hat Probleme: der Rahmen ist gebrochen und das Hinterrad ist beschädigt. Aber er lässt nicht locker – eben ein Kämpfer!
      – Hör mal, genug Heldentaten. Komm mit uns!
      Dieses Mal musste man ihn nicht überreden. Das vollgeladene Fahrrad verschwindet im Tahoe und der „Reiter“ macht es sich gemütlich auf dem Hintersitz vom Discovery. Ich setze mich vorne rechts und reiche Richard schweigend die aufgemachte „Chekuschka“ (kleine Flasche mit Alkohol)... Ah, tüchtiger Kerl, er ekelt sich nicht!
      – Na, erzähl! Wo hast Du geschlafen, was hast Du gegessen?
      – Gestern habe ich auf dem Moor übernachtet, und heute Nacht bin ich an einem Bach ausgezeichnet untergekommen.
      Ich „fahre“ mein Gehirn wieder hoch, automatisch mache ich den zweiten Schluck und erinnere mich an mein Aufnahmegerät.
      – Wo? Wo hast Du übernachtet?
      Bach, Schlucht – wiederholt Richard auf Russisch, merkt jedoch, dass es nicht hilft, die Verwirrung zu beseitigen und schaltet wieder auf Deutsch um:
      – Mein Organismus hat sich an die Kälte gewöhnt. Das ist nichts Besonderes. Du kannst dich auch an die niedrigen Temperaturen anpassen, wenn Du es willst.
      Ich nicke einverstanden und drehe heimlich die Heizung ein paar Grad höher.
      – Jetzt ist es trocken, deswegen braucht man nicht das Zelt aufzubauen. Ich mache den Platz frei vom Schnee, lege die Isomatte auf den Boden, lege dann noch ein Rentierfell darüber, ziehe eine weitere Schicht von der Kleidung an und lege mich in die Schlafsäcke. Ich habe zwei davon. Einer ist warm, aber winddurchlässig und der zweite ist hermetisch und winddicht.
      Es kommt raus, dass er die extremen Wetterverhältnisse schon zur Schulzeit sehr spannend fand. Er wollte sogar professioneller Meteorologe werden. Aber die Geduld hat nicht ausgereicht: für ein Fachgebiet, in welchem man mit langweiliger Theorie gequält wird und es selten Aufgaben „im Feld“ gibt. Er hatte einen Job an einer Meteorologischen Station gefunden und angefangen Geographie zu studieren. Mit dem Studium ist er nun fast fertig: im nächsten Sommer plant er seine Diplomarbeit zu beenden und in beiden Wissenschaften zu arbeiten. Reisen? Ich denke, dieses Hobby wird er nicht bald vernachlässigen, außerdem ist der Weg zum Unbekannten für Richard vertraut.
      Aus Europa kommt er mit der Fähre (so ist es billiger), dann fährt er mit dem Bus bis St. Petersburg, von dort aus nimmt er den Zug und... Skandinavien, Krim, Kaukasus, Subpolarer Ural, Jakutien. Er sagt, irgendwann wird er ein Buch über seine Abenteuer schreiben, wird es beim bekanntesten Verlag Deutschlands herausgeben lassen, wird reich werden und... weiterhin dem „Low Budget Tourismus“ nachgehen!
      Zweieinhalb Monate im Sattel zu verbringen, quer durch Sibirien, den Bergaltai, und schließlich durch die Mongolei – alles für nur 1717 Euro? Sorry, mein Freund, aber für solche Abenteuer bin ich zu alt. Und deine Verpflegung erinnert mich sehr an die Soldatenverpflegung: morgens – Brei, abends – Nudeln, zu Mittag – Brot mit Konserven. Den Brenner musst Du übrigens auswechseln. Bei der starken Kälte wird das Benzin schlecht verdunsten – das ist nicht gut. Lass uns dir unseren Militärbrenner geben...
      Danach haben wir uns über seine Kleidung erkundigt. Ich habe erzählt, dass man auf Nordreisen immer „Sandwich-Technologie“ auf Basis von Wolle, Fleece und einer winddichten Jacke aus synthetischem Material verwendet. Richard ist Befürworter von natürlichen Stoffen:
      – Wenn ich das Fahrrad fahre, dann habe ich zwei Sätze Thermounterwäsche, den Pullover und eine kurze Jacke an. An den Füßen habe ich zwei-drei Paar Socken und Wollkniestrümpfe. Unbedingt braucht man auch einen Wollschal, Wollmütze und eine Schutzmaske fürs Gesicht. Am besten auch aus natürlichen Stoffen!
      Während der kalten Pausen wechselt der „Schneemann“ seine Schuhe und zieht eine lange Jacke mit Kapuze an. Mit einem Wort: die exklusive Technologie der Kälteprävention von Richard ist nicht einfach. Er sagt, dass vieles von der individuellen Kälteverträglichkeit des Organismus abhängt, diese kann man genau feststellen, indem man sich langsam an die niedrigen Temperaturen gewöhnt. Er meint, die komplette Adaptation findet nach drei Tagen in der Kälte statt (an dieser Stelle habe ich meine Klimaanlage noch etwas höher gedreht) und dass jeder Winter-Abenteurer vor vier Sachen Angst haben muss: Krankheit, Erschöpfung, ein schwaches Immunsystem und Hunger. Übrigens, als wir in einem Straßenkaffee Halt machten, habe ich mich entschieden zu schauen, was unser neuer Bekannter für sich auswählt. Richard war treu seinem „abenteuerlichen Minimalismus“: eine Dose von Sprotten, drei Stück Brot, eine Tasse Tee – und eine Tafel Schokolade auf Vorrat.
      – Und warum nutzt Du nicht ein Navigationssystem?
      Oh, ich glaube damit habe ich aus Versehen den professionellen Geographen beleidigt! Richard holt aus der Hosentasche eine zerknitterte Landkarte raus, die voll von Bleistiftmarkierungen ist und ich stecke meinen „Garmin“ (den ich übrigens nie gut beherrscht habe) wieder in die Tasche.
      Auf dem Bahnhof in Pechora haben wir für Richard ein Ticket bis St. Petersburg gekauft und ihn zusammen mit seinem Fahrrad in ein Hotel eingecheckt.
      – Wo geht es das nächste mal lang?
      Unser „Yeti“ hat angefangen über den Baikal zu erzählen, wo er im nächsten Jahr hinfahren möchte, und dann rasch aufgehört:
      – Leute, ich schulde euch was. Wenn ihr mal nach Berlin kommt...
      – Wir kommen unbedingt! Falls wir einfrieren sollten, kannst Du uns etwas Schnaps einschenken.

      P.S. Am 19. Februar 2010, als wir noch in Moskau waren und Richard Löwenherz schon mit dem Fahrrad unterwegs in Richtung Narjan-Mar, wurde an der Meteorologischen Station nicht weit von Inta (das ist 370 km südöstlich von Narjan-Mar) eine Lufttemperatur von -56,4°C registriert – das ist der absolute Rekord für Europa in den letzten 30 Jahren!

übersetzt von Tatjana Lubnina      



Webversion des Artikels mit Video (www.autoreview.ru)...

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